Metropolit Gregorius:Wider den Antikommunismus!

Gerade in unserer heutigen Zeit, wo weltanschauliche Fragen gegenüber pragmatischen Erwägungen weitestgehend in den Hintergrund gedrängt wurden, liest sich der mittlerweile fast 30 Jahre alte Beitrag des orthodoxen Metropoliten Mar Gregorius wie ein wertvoller Gedankenanstoß, der dem erstarrten und verbildeten Denken und den Vorstellungen insbesondere der jüngeren Generation neuen Aufwind zu geben vermag. Daß der, welcher solches schreibt, kein Kommunist ist, macht ihn allemal interessanter. Das zeugt u.a. auch davon, daß die Existenz des realen Sozialismus sich auch auf religiöse Kreise positv ausgewirkt hatte, was in Einzelfällen auch heute noch zutrifft…

Wider den Antikommunismus (1985)
von Metropolit Mar Gregorius /Indien

Die ideologische Krise hat mit dem Wirklichkeitsverständnis des Volkes zu tun und damit, wie es jene Wirklichkeit umformt, damit sie seinen besten Interessen dient. Die Krise ist in den Köpfen der Leute. Sie wissen nicht, wem sie glauben beziehungsweise wie sie verstehen sollen. Andererseits gibt es da den in der Welt weit verbreiteten simplen Antikommunismus; selbst Menschen in den sozialistischen Ländern sind nicht immun dagegen. Gewöhnlich hat er einen religiösen und einen weltlichen Aspekt: Das religiöse Element konzentriert sich auf den kommunistischen „Atheismus“. Die Tatsache, daß Kommunisten nicht an Gott und nicht – wie Reagan es jetzt sieht – an ein Leben nach dem Tode glauben, ist ein hinreichender Grund, nicht nur den Kommunismus abzulehnen, sondern auch einen „heiligen Krieg“, einen Kreuzzug gegen ihn zu führen. Der weltliche Aspekt konzentriert sich auf die Furcht vor dem Kommunismus als dem großen „Gleichmacher“, der die Privilegien und Freiheiten der Reichen beseitigen werde. Religiöse und weltliche Elemente verstärken einander, begleitet von einem systematisch (und subtil) den Leuten eingeprägten Haß gegen die „Russen“. Einer solchen antikommunistischen, antisowjetischen Ideologie nehmen sich Politiker und religiöse Führer überall in der Welt an und verbreiten sie – besonders unter Christen und Moslems. Jede In-Frage-Stellung eines solchen naiven Antikommunismus wird emotional abgelehnt, und es kommt zu einer traurigen Trübung des klaren Verstandes und zur Weigerung, die Wirklichkeit anzuerkennen.

Antikommunistische Vorurteile

In der Zwei-Drittel-Welt ist dieser Antikommunismus alles durchdringend gegenwärtig, besonders in der Mittelschicht, die der westlichen Propaganda gegenüber offener als andere ist. Sie beklagt sich freilich in erster Linie nicht über die Gottlosigkeit des Kommunismus, sondern über das angebliche Fehlen einer Freiheit von staatlicher Kontrolle. Es gibt auch vorgefaßte Meinungen über die „blutigen und gewaltsamen Methoden“ des Kommunismus, zum Teil gegründet auf Impressionen aus der Stalin-Ära, vor allem aber als Ergebnis der im Westen gezeichneten Karikatur des Kommunismus.

Dieses antikommunistische Vorurteil, selten systematisch artikuliert, wird ein wichtiges Werkzeug des Imperialismus und der reaktionären Kräfte in der Welt. Die Zeitungen, die meist reicheren Gruppen gehören, halten systematisch alle positiven Informationen über die sozialistischen Länder zurück. Dagegen spielen sie die Dissidenten beziehungsweise einzelne politische Prozesse hoch und erwecken mit allen nur möglichen Mitteln den Eindruck, daß den Menschen in den sozialistischen Ländern die Menschenrechte verweigert würden. Darüber hinaus erschwert die Infiltration einer subtilen Form westlichen Liberalismus die offene Ideologie-Diskussion – und zwar in den industriell entwickelten Ländern ebenso wie in der Zwei-Drittel-Welt.

Die bürgerliche Illusion von einem „dritte Weg“ und die Krise des Marxismus

Dieser Liberalismus vertritt mit einer gewissen hochmütigen Herablassung die Ansicht, daß Kapitalismus und Sozialismus beide schlecht seien und daß wir nach einem „dritten Weg“ Ausschau zu halten hätten. Jeder „dritte Weg“ aber erweist sich schließlich nur als eine weitere Variante der Politik der Marktwirtschaft! Gleichzeitig gibt es eine Krise innerhalb des Marxismus selbst, die die Diskussion zusätzlich kompliziert. Diese Krise hat zwei unterschiedliche Quellen:

Die erste ist das Aufkommen einer verwirrenden Anzahl neuer (bzw. wiederbelebter alter) Versionen des Marxismus. Der Euro-Kommunismus, der Kommunismus der Wohlstandsgesellschaft mit seinem unverhohlenen Antisowjetismus ist eine Form. Unter jungen Intellektuellen kommt der Trotzkismus wieder in Mode. Am bösartigsten aber sind die vielfältigen Formen der „neuen Linken“ mit ihren simplizistischen Heilmitteln für die komplexesten Probleme und mit ihrem Eintreten für die „permanente Revolution“ oder einen „kritischen Marxismus“ – ohne daß sie jedoch die praktischen Implikationen dieser neuen Doktrin wirklich erkennen. Da gibt es die chinesische Spielart eines pragmatischen Marxismus, der Großmachtambitionen mit sozialistischen Zielen zu verbinden sucht. Die Folge dieser vielfältigen Formen von „Marxismus“ ist eine ideologische Verwirrung unter Marxisten selbst. Die Führungen marxistischer Parteien haben Angst vor tiefgehender ideologischer Reflexion und Diskussion aus Sorge um die Einheit der Parteien. Das Ergebnis ist, daß junge Marxisten (und viele von den alten ebenso) in der marxistischen Theorie nur ungenügende Kenntnisse besitzen und sich bei der Ausarbeitung von Aktionsprogrammen durch fremde und unwesentliche Überlegungen leiten lassen.

Die andere Quelle der Krise ist die Tatsache, daß der an der Macht befindliche Kommunismus andere Qualitäten bezeugt als der für die Emanzipation des Volkes noch kämpfende Kommunismus. Der Geist der Opferbereitschaft und der Wille zum Ertragen der Härten schwinden, während die üblichen Wertvorstellungen der Machtelite innerhalb der Parteikader nach oben kommen. Das wiederum stößt jene Marxisten ab, die nach wie vor an den Werten des revolutionären Kampfes festhalten. Da aber die Macht, Entscheidungen zu fällen, nicht in ihrer Hand liegt, ziehen sie sich still und leise von der politischen Bühne zurück und versuchen in der akademischen Welt oder in ähnlich ruhigen Atmosphären zu arbeiten. Die ältere Führung konsolidiert ihre Macht in der Partei und dem Staatsapparat; die Ideologie wird so kompromittiert. Das Endergebnis ist ein Nachlassen ernsthafter, sich auf die Praxis gründender theoretischer Reflexion.

Für eine neue Diskussion über Fragen des Marxismus-Leninismus

Es ist verständlich, daß die Marktwirtschaft die intellektuelle Welt von der ideologischen Reflexion abhalten soll und sich mit einer Art Ad-hoc-Denken und dem kritischen Pragmatismus begnügt – hat sie doch die Gefahr erkannt, daß tieferes Nachdenken nur die gegen das Volk gerichteten Aspekte des marktwirtschaftlichen Programms entlarven würde. Das ist nicht zu befürchten, solange sich die Diskussion auf pragmatische Aspekte des Programms beschränkt. Das Tragische aber ist, daß es auch in sozialistischen Parteien eine Verhinderung ernsthaften (das heißt auf die Wirklichkeit gründenden) theoretischen Nachdenkens gibt.

Die jungen Leute sind verwirrt. In einem Alter, wo nur mit der Praxis eng verbundene theoretische Erkenntnisse zu tieferen Überzeugungen führen können, sehen sie wenig Licht, dem sie folgen könnten. Die Universitäten in der Welt der Marktwirtschaft befinden sich selten in der dazu notwendigen Verfassung. Selbst in sozialistischen Ländern – so scheint es zumindest dem Außenstehenden – bleibt da noch viel zu wünschen übrig.

Die ideologische Krise besteht also nicht etwa in einer direkten Konfrontation zwischen sozialistischen und Freie-Markt-Ideologien, sondern gerade im Fehlen einer solchen Konfrontation auf der ideologischen Ebene. Der christlich-marxistische Dialog hat einmal dabei geholfen, einige ideologische Fragen zu klären. Heute aber herrscht die Tendenz, ideologische oder theoretische Fragen im Dialog zu vermeiden und die Diskussion auf allgemein akzeptable Dinge und Programme zu beschränken. Das Endergebnis ist, daß die Leute abgeschnitten werden von der ideologischen Reflexion, die nun auf eine halbverdaute Diskussion unter „sicheren“ Akademikern beschränkt bleibt.

Quelle:
Weißenseer Blätter (Zwischenüberschriften von mir, N.G.)

Metropolit Paulos Mar Gregorios
Metropolit Mar Gregorius (1922-1996)

Paul Verghese wurde in Kerala geboren. Er begann seinen Berufsweg als freischaffender Journalist mit Artikeln und Berichten für verschiedene Zeitungen. Zum Metropoliten wurde er am 16. Februar 1975 durch seine Kirche berufen. Ein Jahr später leitete Paulos Mar Gregorios die Diözese Delhi und gründete das Delhi Orthodoxe Zentrum. Er hatte mehrere Positionen im Weltrat der Kirchen (ÖRK) inne. [1] Das Andenken an den Metropoliten wird heute in Indien und Syrien sehr hoch geschätzt. [2]

[1] Wikipedia
[2] http://www.paulosmargregorios.in
Erzdiözese von Aleppo

Siehe auch:
Thomas Mann: Der Antikommunismus ist die Grundtorheit der Epoche
Was ist Marxismus?
Diese Ideen kann man nicht besiegen – niemals!
Walter Ulbricht: Warum Marxismus-Leninismus

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