Man mag heute darüber lächeln oder auch nicht. Der berühmte russische Pädagoge A.S. Makárenko erzählt uns eine Geschichte, wie sie sich tatsächlich zugetragen hat, und wie sie – so oder ähnlich – typisch war für die Sowjetbürger. Eine rührend menschliche Begebenheit, die zeigt, wie einfache Menschen Großes vollbringen. Wenn man sich die gewaltigen Veränderungen vor Augen führt, die aus einem rückständigen Land, wo es in kaum einem kleinen Dorf elektrisches Licht gab, ein fortschittliches, hochentwickeltes Industrieland machte, ein Leseland, in dem sogar mancher Arbeiter Bücher von Maupassant oder Heine im Original las, dann weiß man, wie sehr die einfachen Menschen Rußlands die neue sozialistische Ordnung schätzten, die durch die Große Sozialistische Oktoberrevolution eingeführt worden war. Worum geht es? Eine Betriebsbibliothek in der Sowjetunion. Ein bekannter Schriftsteller kommt zu einer Buchlesung in ein kleines ukrainisches Dorf. Der Saal des Kulturhauses ist bis auf den letzten Platz besetzt. Und andächtig lauschen die Besucher seinen Worten. Im Anschluß daran findet eine Diskussion statt…
Eine Buchlesung in einem kleinen ukrainischen Dorf
Die Diskussion wurde sehr interessant. Die Leser, die daran teilnahmen, sprachen offen und innerlich sehr beteiligt, und wenn sie vom Podium weggingen, drückten sie dem Schriftsteller die Hand und dankten ihm. Wera Ignatjewna sah mit eifersüchtigem Blick jedem Diskussionsredner entgegen und begleitete ihn nachher beruhigt und froh. Die Jungen und die Alten konnten nicht nur sprechen, sie konnten auch empfinden, und darin lag ein großer Triumph. Wera Ignatjewna wußte, daß das ein großer, das ganze Volk umfassender Sieg war. Vor sich und hinter ihrem Rücken fühlte sie ein bezauberndes Land, ein Land, in dem man zu sprechen und zu empfinden wußte. Andrej Klimowitsch nahm ebenfalls das Wort und sagte in aller Kürze: „Ich habe die Bücher des Genossen gelesen, ich muß schon sagen, unter Lebensgefahr: Ich habe zwei Nächte nicht geschlafen. Wie großartig ist darin das Volk geschildert! Eine kämpferische Nation, ein junges, fröhliches Volk. Es ist einfach ein Volk, das in seiner Arbeit aufgeht! Was soll ich noch sagen? In der Nacht liest man, und am Tage beobachtet man dann, daß das Volk wirklich so ist! Es ist also wahrheitsgetreu dargestellt. Ich gehöre ja auch dazu…“ Das Publikum lachte laut.
Andrej Klimowitsch überlegte, daß er zu weit gegangen war, verlegen strich er sich den Schnurrbart von der Nase bis zu den Spitzen. Und dann machte er die Sache wieder gut. „Wir brauchen natürlich mehr Kultur, das ist wahr, ihr habt das ganz richtig bemerkt. Und wir geben uns auch alle Mühe. Da haben wir also eine gute Bibliothek, einen bewundernswerten Klub, Schriftsteller kommen zu uns, auch Gelehrte. Und ich danke der Sowjetmacht. daß sie uns solche Genossen an die Arbeit stellt Wera Ignatjewna Korobowa.“ Im Saal brach lauter Beifall aus. Wera Ignatjewna sah sich nach Schriftsteller um, aber auch dieser stand schon hinter Tisch und lächelte, blickte sie an und klatschte mit. Viele im Saal standen auf, alle sahen auf Wera Ignatjewna, der Beifall wurde immer stärker. Völlig außer Fassung wollte Wera Ignatjewna zur Tür eilen, aber der Schriftsteller legte sanft den Arm um ihre Taille und schob sie vorsichtig zum Tisch. Sie setzte sich auf einen Stuhl, und zu ihrer eigenen Überraschung legte sie den Kopf auf die Stuhllehne und fing an zu weinen. Alle verstummten sogleich, aber Andrej Klimowitsch machte mit gespielter Verzweiflung eine resignierte Handbewegung, und alle lachten gutmütig und liebevoll.
Wera Ignatjewna hob den Kopf, trocknete schnell ihre Tränen und mußte mitlachen. Im Saal wurde wieder gesprochen. Andrej Klimowitsch nahm ein Schreiben in die Hand und las vor, daß die Parteiorganisation, der Betriebsrat und die Werksleitung beschlossen hätten, die leitende Bibliothekarin Wera Ignatjewna für ihre energische und hingebungsvolle Arbeit mit einigen Metern Crêpe de Chine für ein Kleid zu prämiieren. Dieses Wort sprach Andrej Klimowitsch nicht ganz sicher aus und unterstrich die Schwierigkeiten, die er damit hatte, noch durch Kopfnicken. Aber das Wort ging in neuem Beifall unter. Aus seiner Aktentasche nahm Andrej Klimowitsch ein leichtes Päckchen, das mit einem blauen Bändchen zugebunden war. Er nahm es in die linke Hand, die rechte streckte er Wera Ignatjewna entgegen. Wera Ignatjewna wollte mit der Rechten das Päckchen nehmen, aber sie merkte, daß das nicht richtig wäre. Da kriegte Andrej Klimowitsch ihre Hand zu fassen und drückte sie kräftig. Die Leute im Saale klatschten Beifall und lachten vor Freude. Wera Ignatjewna aber errötete tief und sah Andrej Klimowitsch mit aufrichtigem Vorwurf an. Aber Andrej Klimowitsch lächelte überlegen und vollzog geduldig alle notwendigen Zeremonien. Schließlich legte er den Crêpe de Chine in dem weißen Päckchen mit dem blauen Band vor sie auf den Tisch. In diesem Augenblick dachte Wera Ignatjewna an ihren alten Rock und zog schnell die Füße unter den Stuhl, damit man ihre Schuhe im Saal nicht sehen konnte.
Die neue sozialistische Kultur
All das zog sich ziemlich lange hin. Der Schriftsteller nahm das Wort und hielt eine schöne Rede. Er dankte dem Betriebsrat, der ihn zu dieser Diskussion eingeladen hatte und wies auf die Arbeit eines so tüchtigen Menschen wie Wera Ignatjewna Korobowa hin. „Unter den Schriftstellern“, so sagte er, „kennen viele diese Frau. Es genügt nicht, ein Buch zu schreiben, man muß es dem Leser auch im geistigen Austausch vermitteln, und so wird das große Werk der politischen, kulturellen und sittlichen Aufklärung verrichtet. In der Umgebung solcher Menschen wie Wera Ignatjewna wächst und verbreitet sich die neue sozialistische Kultur. Die heutige Versammlung ist eine ebenso große Errungenschaft wie die Errichtung eines neuen Werkes, die Erhöhung des Ernteertrages, der Bau einer Straße. In unserer Sowjetunion gibt es viele solcher Versammlungen und solcher Kundgebungen der jungen und großen sozialistischen Kultur. Wir alle müssen darauf stolz sein, aber auch auf Menschen wie Wera Ignatjewna. Während in den faschistischen Staaten Bücher auf Scheiterhaufen verbrannt und die besten Vertreter des Humanismus verfolgt und vertrieben werden, kommt man in unserem Lande dem Buch mit Liebe und Dankbarkeit entgegen und ehrt solche schöpferische Mitarbeit am literarischen Leben wie Wera Ignatjewna.“ Im Namen de Schriftsteller dankte er ihr für die große Arbeit und wünschte ihr Kraft und Gesundheit, damit sie noch recht lange an der Erziehung des sowjetischen Lesers mithelfen könne.
Wera Ignatjewna hörte die Rede des Schriftstellers aufmerksam an und erkannte staunend, daß sie tatsächlich eine große Aufgabe erfüllte, und daß ihre Liebe zu den Büchern keineswegs nur ein privates, persönliches Gefühl sei, sondern unendlich nützlich und wichtig für die Gesellschaft. Die gesellschaftliche Bedeutung ihrer Arbeit wurde ihr plötzlich so klar wie noch nie zuvor. Aufmerksam unter suchte sie diesen Gedanken, erfaßte ihn in seinen Zusammenhängen, vor sich sah sie Tausende und aber Tausende Bücher, die von Menschen gelesen wurden, sah diese Menschen selbst, die noch vor kurzer Zeit naiv und ohne Selbstvertrauen waren und sich vor den Aufschriften der Buchrücken und den Reihen der vielen Namen verloren fühlten und inständig baten: „Geben Sie mir Räubergeschichten“ oder: „Vielleicht so etwas … aus dem Leben.“ Jetzt aber verlangten sie bereits Bücher über den Krieg, die Revolution, über Lenin. Und sie konnten diese gar nicht immer sofort mitnehmen, sondern ließen sich als Fünfunddreißigster oder Vierundfünfzigster in der Reihe für ein bestimmtes Buch vormerken und schimpften wohl auch: „Was soll denn das heißen? In einer solchen Bibliothek nur fünf Exemplare! Ein unmöglicher Zustand!“
… auch dafür hat unsere Revolution gekämpft!
Wera Ignatjewna wunderte sich über sich selbst. Das hatte sie doch auch früher schon alles gewußt. Unter ihrer Leitung arbeiten acht Bibliothekare, und die haben das auch alles gewußt, wie oft haben sie in den Nachmittagsstunden über Bücher, Leser und Methoden gesprochen. Sie kennt auch die Arbeit andererBibliotheken, war oft auf Konferenzen, las kritische und bibliographische Aufsätze und Zeitschriften. Sie hatte alles gewußt, überall teilgenommen und doch nie einen solchen Stolz gefühlt wie gerade heute, nie einen solchen Triumph.
Und als ob er darauf antworten wollte, sprach der Schriftsteller weiter: „Menschen wie Wera Ignatjewna sind schrecklich bescheiden, sie denken nie an sich selbst, sie denken immer nur an ihre Arbeit und vertiefen sich allzu sehr in diese Aufgaben. Aber wir alle denken an sie, mit wärmster Anerkennung drücken wir ihnen die Hand, und ich finde, die Organisation eures Werkes hat es richtig gemacht, daß sie Wera Ignatjewna mit einem wertvollen Kleiderstoff prämiiert hat. Und wir sagen zu ihr: Nein, denken Sie auch an sich, leben Sie glücklich, tragen Sie schöne Kleider, Sie haben es verdient; denn unsere Revolution hat auch dafür gekämpft, daß ein werktätiger Mensch ein gutes Leben führen kann.“
Dieser besondere Tag blieb bis zuletzt ein Ausnahmetag. Nach der Versammlung in der Bibliothek fand ein Bankett für die Mitarbeiter der Bibliothek und das Leseraktiv statt. Auf den Tischen stand wein, belegte Brote, Kuchen. Die jüngeren Mitarbeiter wiesen Wera Ignatjewna ihren Platz neben dem Schriftsteller an und bis zum späten Abend sprachen sie von ihren Erfolgen, Mühen und Zweifeln und ihren gemeinsamen Freunden, den Lesern, von Büchern und Schrifstellern.
Quelle:
Anton Semjonowitsch Makárenko: Ein Buch für Eltern, Aufbau Verlag Berlin, 1954, S.324-328.
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