Anton Semjonowitsch Makárenko (1888-1939), der große sowjetische Pädagoge, leitete über viele Jahre in der Sowjetunion ein Kinderheim, um in der damaligen Zeit aus verwahrlosten Kindern wertvolle Persönlichkeiten zu machen. Man kann diese Erziehungsanstalt durchaus als „Gulag“ bezeichnen, wohl wissend, daß darunter in unserer heutigen kapitalistischen Gesellschaft eine Art Straflager verstanden wird, was es nicht war. Im Gegenteil: aus fast allen dieser Kinder wurden später anerkannte Ingenieure, Archiktekten, Ärzte, Lehrer und verdienstvolle Arbeiter. Und Makárenko selbst war bis an sein Lebensende ein geliebter und hochgeachteter Pädagoge; wie im übrigen alle Lehrer in der Sowjetunion ohnehin ein hohes Ansehen genossen. „Ich hatte Gelegenheit“, schrieb Makárenko, „mit vielen Eltern bekannt zu werden, ihnen in diesem oder jenem Falle zu helfen. Unter dem Einfluß meiner Eindrücke und meiner Arbeit entschloß ich mich, das ‚Buch für Eltern‘ zu schreiben.“ Ein Buch, das nicht nur für Eltern, sondern auch für Lehrer, die es ernst meinen mit der Erziehung ihrer Kinder, unbedingt lesenswert ist, auch wenn viele der geschilderten Erlebnisse aus einer anderen, uns fremden Zeit entstammen. Daraus nun der folgende Auszug:
Die Menschen stehen unter den Gesetzen der menschlichen Gesellschaft, nicht unter den Naturgesetzen. Die Gesetze des sozialen Lebens wirken weit exakter und viel reibungsloser und logischer als die Naturgesetze. Aber sie stellen an den Menschen viel größere Anforderungen in bezug auf Disziplin als Mutter Natur, und bestrafen ihn, wenn er diese Disziplin vernachlässigt, sehr streng. Sehr häufig kann man folgendes beobachten: Die Menschenmutter zeigt eine Neigung, sich nur den Naturgesetzen zu unterwerfen, zugleich verzichtet sie aber keineswegs auf die menschliehen Kulturgüter. Wie soll man ein solches Verhalten bezeichnen? Nur als Zweigleisigkeit. Die Kinder müssen für dieses Vergehen der Mutter, gegen das hohe Menschentum schwer büßen: Aus ihnen werden keine vollwertigen Glieder der menschlichen Gesellschaft. Unsere Mütter brauchten nicht so viel Energie aufzuwenden, um ihre Kinder zu ernähren. Die menschliche Technik erfand Märkte, Geschäfte und eine große organisierte Nahrungsmittelproduktion. Und darum erweist sich die Leidenschaft, möglichst viel Nahrung in die kleinen Mäuler der Kinder hineinzustopfen, als schädlich und überflüssig. Das ist um so gefährlicher, wenn man dabei ohne Überlegung von einer komplizierten Einrichtung, wie es die artikulierte Rede ist, Gebrauch macht.
Erziehung zum Egoismus
Shora blickt verächtlich auf seine Milchtasse. Er ist satt. Aber die Mutter sagt zu ihm:
„Die Katze möchte auch Milch haben. Schau, wie sie herguckt!“
„Nein! Der Katze geben wir nichts! Die Milch bekommt Shora! Geh in deine Ecke, Katze!“
Die Worte der Mutter scheinen wahr zu sein. Die Katze sieht wirklich nach der Milch hin, und sie möchte tatsächlich gerne frühstücken. Shora blickt nun verächtlich auf die Katze. Und Mutter Natur triumphiert: Shora kann jetzt nicht mehr zulassen, daß die Katze die Milch aufschleckt. Aus solchen kleinen Anfängen entwickelt sich der Egoist.
„Ich bin kein Asket, aber wir brauchen eine Dialektik der Gefühle.“
(Feliks Dzierżyński)
Vielleicht lassen sich alle Mißerfolge in der Erziehung auf die eine Formel zurückführen: „Erziehung zur Habgier“. Das ständige, rastlose, bangende, argwöhnische Streben, Güter zu verbrauchen, findet seinen Ausdruck in den verschiedensten Formen. Sie müssen äußerlich gar nicht immer abstoßend sein. Das Streben entwickelt sich von den ersten Lebensmonaten an. Wenn es ausschließlich dieses Streben gäbe, so wäre ein soziales Leben und eine menschliche Kultur unmöglich. Aber zugleich mit diesem Streben entwickelt sich und wächst das Wissen um das Leben und vor allem das Wissen um die Grenzen der Habgier.
Wie verläuft die Erziehung im Kapitalismus?
In der bürgerlichen Gesellschaft wird die Habgier durch die Konkurrenz reguliert. Hier werden die mehr oder weniger heftigen Wünsche des einen Menschen durch ebenso heftige Wünsche des anderen eingeschränkt. Das Ganze ähnelt der Schwingung von MillionenPendeln, die sich ungeordnet auf engem Raume bewegen. Sie schwingen in verschiedenen Richtungen und Flächen, stören sich gegenseitig in ihrer Bahn, stoßen sich, ritzen sich und knirschen dabei. In einer solchen Welt ist es vorteilhaft, nach dem Gesetz der Trägheit der metallischen Masse recht viel Schwungkraft zu sammeln, dann möglichst stark damit auszuholen, um die Bewegung der Nachbarn zu hemmen und zu vernichten. Aber es ist in dieser Welt auch wichtig, die Widerstandskraft des Nachbarn zu kennen, um selbst nicht durch eine unvorsichtige Bewegung geschädigt zu werden. Die Moral der bürgerlichen Welt ist die Moral der Habgier; sie ist ganz und gar auf Habgier eingestellt.
Die menschlichen Wünsche an sich beruhen noch nicht auf Habgier. Wenn ein Mensch aus einer rauchigen Stadt in einen Fichtenwald kommt und dort beglückt aus voller Brust atmet, so wird ihn niemand beschuldigen, daß er den Sauerstoff allzu gierig verbrauche. Die Habgier beginnt dort, wo das Bedürfnis des einen Menschen mit dem des anderen zusammenstößt, wo man dem Nachbar die Freude oder Zufriedenheit mit Gewalt, Hinterlist oder durch Diebstahl nehmen muß.
Was wollen die Kommunisten und was wollen sie nicht?
Unser Programm verlangt weder den Verzicht auf Wünsche, noch ein Hungern in Einsamkeit, noch eine bettelhafte Unterwürfigkeit vor der Habgier der Nachbarn. Wir leben auf dem Gipfel des größten Umschwungs in der Geschichte. In unseren Tagen beginnt eine neue Organisation der menschlichen Beziehungen, eine neue Sittlichkeit und ein neues Reclit, deren Grundlage die siegreiche Idee der menschlichen Solidarität ist. Die Pendel unserer Wünsche können nun weit ausschwingen. Vor jedem Menschen öffnet sich jetzt ein breiter Weg für sein Streben, für sein Glück und seinen Wohlstand. Aber er kommt auf tragische Weise in eine unerträgliche Situation, wenn er denkt, er müsse sich in diesem freien Lebensraum nach alter Gewohnheit mit den Ellenbogen Platz machen. Denn selbst unsere Jüngsten wissen heute, daß der Mensch die Ellenbogen hat, um den anderen zu fühlen, und daß es heute ebenso unmoralisch wie dumm ist, sich aggressiv mit den Ellenbogen seinen eigenen Weg zu bahnen. In der sozialistischen Gesellschaft, die auf der vernünftigen Idee der Solidarität aufgebaut ist, ist eine sittliche Handlung zugleich auch vernünftig. Das ist ein sehr wesentlicher Umstand, den alle Eltern und Erzieher kennen müssen.
Kann man das noch genauer sagen?
Früher war moralische Größe das Vorrecht einiger Ausnahmemenschen, deren Zahl man an den Fingern abzählen konnte, und darum wurde eine nachsichtige Einstellung gegenüber der sittlichen Vervollkommnung schon seit sehr langer Zeit zur Norm der gesellschaftlichen Moral. Eigentlich gab es zwei Normen. Eine, mit der man paradierte, für die Moralpredigt und für Spezialisten des Heldentums, die andere für das gewöhnliche Leben und für die „gescheiten“ Leute. Nach der ersten Norm sollte man den Armen sein letztes Hemd geben, sein Vermögen verteilen, die rechte und die linke Wange hinhalten. Nach der zweiten Norm wurde das keineswegs verlangt, es wurde überhaupt nichts Heiliges verlangt. Hier war nicht die sittliche Höhe der Gradmesser für die Sittlichkeit, sondern die gewöhnliche Alltagssünde. Da hat man so gerechnet: Alle Menschen sündigen, dagegen läßt sich nichts tun. Mit Maß sündigen – das wurde zur Norm. Der Anstand erforderte es, daß man einmal im Jahre unter alle Sünden für die vergangene Periode einen dicken Strich zog, fastete, einige Stunden den näselnden Gesang der Diakonen anhörte, für einen Augenblick unter das unsaubere Epitrachelion des Priesters schlüpfte … und alle Sünden „auf das Verlustkonto“ schrieb. Die alltägliche Sittlichkeit ging nicht über die Grenzen der normalen Sünde hinaus, der Sünde, die nicht so schwer war, daß man mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt geriet, aber auch nicht so leicht, daß sie den Vorwurf der Einfalt verdient hätte, die bekanntlich „schlimmer als Diebstahl“ ist.
Die Erziehung zur Solidarität und zur Menschlichkeit
In der sozialistischen Gesellschaft wird die sittliche Forderung allen Menschen gestellt, und alle müssen sie erfüllen. Bei uns gibt es keine Paradenormen der Heiligkeit, und unsere sittlichen Errungenschaften kommen im Verhalten der Massen zum Ausdruck und es wird niemand bezweifeln, daß diese Millionen die gleiche sittliche Höhe an den Tag legen werden. Die Achtung und Liebe, die unseren Helden entgegengebracht wird, enthält am allerwenigsten moralisches Erstaunen. Wir lieben sie, weil wir mit ihnen solidarisch sind, und ihre Heldentaten sind praktisch ein verpflichtendes Vorbild für uns und unser Verhalten. Unsere Sittlichkeit erwächst aus der tatsächlichen Solidarität der Werktätigen.
Die kommunistische Moral kann schon allein darum nicht zur Moral der Enthaltsamkeit führen, weil sie auf der Idee der Solidarität aufgebaut ist. Sie fordert von der Persönlichkeit die Ausschaltung der Habgier und die Achtung vor den Interessen und dem Leben des Mitmenschen, und darum fordert sie auch ein solidarisches Verhalten unter allen Umständen, besonders im Kampf. Die Idee der Solidarität, die sich bis zur philosophischen Verallgemeinerung ausdehnt, umfaßt alle Lebensgebiete. Das Leben ist ein Kampf für den morgigen Tag, ein Kampf mit der Natur, mit der Finsternis, mit der Unwissenheit, mit dem zoologischen Atavismus*, mit den Resten des Barbarentums. Das Leben ist der Kampf um die Aneignung der unerschöpflichen Kräfte der Erde und des Himmels. Je fester die menschliche Solidarität ist, desto größer sind die Erfolge in diesem Kampf.
Quelle:
A.S. Makárenko: Ein Buch für Eltern. Aufbau-Verlag Berlin, 1954, S.308-403. (gekürzt und mit Zwischenüberschriften versehen, N.G.) *Atavismus: Entwicklungsrückschlag.
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Ergänzend zum Text „A.S.Makarenko – der Kollektiverzieher“, ein Beitrag von Sascha’s Welt: „A.S. Makarenko: Erziehung zu Solidarität und Menschlichkeit“, der die Bedeutung von Makarenko für die Erziehung des Menschen im Sozialismus zu einer allseitig gebildeten und charakterlich starken Persönlichkeit, die dem Begriff des Humanismus erst seine wirkliche Bedeutung zuweist, unterstreicht.
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