Ende der achtziger Jahre ersucht ein gewisser Martin Meisel aus Mainz, Jahrgang 1904, um Einreise in die DDR. Er wollte seine im Erzgebirge wohnenden Verwandten besuchen. Die zuständige Kreisdienststelle nahm eine Speicherüberprüfung bei der Abteilung 11 vor. Auch diesen Auftrag erhielt mein Referat. Wir wurden fündig! Zu Meisel gab es Originalunterlagen der Gestapo Leipzig sowie, als Kopie, Teile eines Ermittlungsvorganges der Leipziger Kriminalpolizei aus der Zeit von 1945 bis 1950, aus denen folgender wesentlicher Sachverhalt hervorging: Meisel war 1933 als Angehöriger der Schutzpolizei Leipzig von der faschistischen Polizei übernommen worden. 1939 wurde er Vollzugsbeamter der Gestapo/Staatspolizeidienststelle Leipzig und 1941 zum Kriminaloberassistenten ernannt. Nach 1945 von der Kriminalpolizei geführte Ermittlungen ergaben, daß Meisel mit mindestens 15 weiteren Gestapo-Beamten am 12. April 1945 in Leipzig-Lindenthal an einer Massenexekution von Untersuchungshäftlingen der Gestapo beteiligt war und zum Erschießungskommando gehörte. Dieser Massenmord geht auf eine Anordnung des Reichsjustizministeriums zurück, wonach »… Haftanstalten bei Feindannäherung zu räumen und bestimmte Häftlingskategorien der Polizei zur Beseitigung zu überstellen sind«.
Ein Schreibtischtäter sagt aus…
Der Verantwortliche dieser Exekution, Kriminal-Obersekretär Karl Rieth, wurde 1946 von den amerikanischen Besatzungstruppen den tschechoslowakischen Behörden übergeben. Rieth sagte vor den Sicherheitsorganen in Prag 1947 aus:
»… Zu den Erschießungen von 57 Häftlingen 1945 in Leipzig Lindenthal, an der ich als Kommandeur des Exekutions-kommandos teilgenommen habe, gebe ich folgendes an:
Über diese Angelegenheit habe ich in meinem Lebenslauf geschrieben und außerdem habe ich diese Exekution bereits im Internierungslager Ziegenheim beschrieben und den amerikanischen Militärbehörden übergeben. Das Original dieses Schriftstückes wurde ebenfalls übersandt und mir heute vorgelegt. Es ist ein Elaborat von 5 Seiten. (…) Etwa gegen 15.00 Uhr am 12.4.1945 kamen zwei Autobusse der städtischen Betriebe mit allen Delinquenten auf diesen Exerzierplatz und alle lagen auf Weisung der Wache im Autobus. Als Begleiter dieser Häftlinge fungierten folgende Angehörige der Gestapo: Fritz Anselmi, Polizei-Obersekretär, der die Liste der Delinquenten überbrachte, Willi Blom, Kriminalsekretär, (…), Martin Meisel. (…) Immer zwei Angestellte führten den Mann, der zur Hinrichtung bestimmt und nicht gefesselt war, bis an den Rand der Grube, wo er niederknien mußte. Sobald der Häftling niederkniete, wurde von einem der obengenannten drei Schützen mit der Pistole in den Rücken geschossen, so daß er in die Grube fiel.«
Gleichlautende Aussagen lagen auch vom Gestapobeamten Willy Blom vor. Die Gestapoleute hatten sich vor dem Einrücken der Amerikaner in Leipzig falsche Ausweise beschafft. Meisel stellte sich Dokumente auf den Namen Konrad Peter aus. Vermutlich Ende 1945 setzte er sich in eine Westzone ab.
Der Massenmörder Meisel versucht in die DDR einzureisen
Das von Meisel beantragte Einreiseersuchen in die DDR wurde nach Beratung mit dem Staatsanwalt abgelehnt. Aufgrund des dringenden Verdachtes, NS-Verbrechen begangen zu haben, wäre eine Verhaftung Meisels bei seiner Einreise nicht zu umgehen gewesen. Diese Maßnahme hätte jedoch zweifelsohne zu Querelen mit der BRD-Vertretung und einer Medienkampagne gegen die DDR geführt, da ja nach einer Festnahme die Frage gestellt worden wäre, weshalb man eine Besuchserlaubnis trotz einer vorgesehenen Verhaftung erteilte. Uns wäre vorgehalten worden, den BRD-Bürger vorsätzlich getäuscht zu haben, um ihn verhaften zu können. Man weiß nicht, was Meisel überhaupt zu einer Reise in die DDR bewogen haben mag. War es mangelndes Unrechtsbewußtsein oder die Dreistigkeit eines unbelehrbaren Straftäters? Etwas verunsichert muß er aber wohl doch gewesen sein, denn er suchte in der BRD um Auskunft, ob eine Reise in die DDR ratsam sei. Ihm wurde davon abgeraten, da er eine Festnahme befürchten müsse.
In der BRD bleiben Nazi-Verbrecher von Strafen verschont
Abgesehen von einem 1948 in Gießen gegen Meisel durchgeführten Spruchkammer-Verfahrens blieb er von weiteren Strafverfolgungsmaßnahmen unbehelligt, obwohl seinerzeit der Leipziger Polizeipräsident einen ausführlichen Sachstandsbericht nach Gießen übersandt hatte. Wie man sieht, reiht sich dieser Vorgang würdig in die säumige juristische Vergangenheitsbewältigung der NS-Zeit in der BRD ein. Aber genau von dort kamen nach der »Wende« die eifrigsten Anschuldigungen gegenüber dem untergegangenen deutschen Staat, Naziverbrecher verschont zu haben. Warum das ausgerechnet in der Absicht antifaschistischer Funktionäre und Politiker der DDR gelegen haben sollte, ist wohl mit logischen Argumenten nicht zu belegen.
Manfred Liebscher: Im Paradies der Erinnerungen …
Autobiographie, Broschur, 316 Seiten, NORA Verlagsgemeinschaft 2002,
ISBN 3-935445-78-4, 22,50 € (Preis inkl. MwSt., zzgl. Versandkosten)
Siehe auch hier:
http://politiekencultuur.blogspot.de/2008/08/manfred-liebscher-im-paradies-der.html
http://shop.strato.de/epages/.Store12.sf/?ObjectPath=/Shops/187541/Products/92329-1781857
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Wie gut zu wissen.Danke
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