60 Lügen – und die mißliche Lage der Linken heute…

chruschtschowÜber die dreisten Lügen des Polit-Gangsters Chruschtschow ist schon viel geredet worden, doch was hatte das für Konsequenzen – und wie verhält sich das heute, 60 Jahre danach? Nach wie vor sind die Linken zerstritten, nach wie vor herrscht Uneinigkeit über Perspektiven der Gesellschaft, nach wie vor gibt es keine einheitliche führende Kraft, die einen gangbaren Weg zum Sozialismus weist, nach wie vor ist die deutsche Arbeiterklasse gespalten und verhält sich größtenteils passiv, und nach wie vor gibt es Revisionisten, die immer noch wie ein blindes Huhn im Misthaufen der bürgerlichen Ideologie herumstochern, ohne zu neuen Erkenntnissen gelangt zu sein.

Überall bricht und bröckelt es, doch die Bourgeoisie baut munter ihre morbiden Bastionen weiter aus, teilweise sogar ohne auf einen nennenswerten Widerstand zu stoßen. Die Masse der Deutschen ist entpolitisiert, vergnügt sich und beugt sich freiwillig dem Joch ihrer Ausbeuter.  Hin und wieder flammen Streiks und Demonstrationen auf. Und nur eine kleine versprengte Zahl von Kommunisten rackert sich ab, um das zu tun, was in dieser Lage am notwendigsten ist: Aufklärung und Verbreitung der Lehren von Marx, Engels Lenin UND Stalin. Wenn nun selbst bürgerliche (und keineswegs nur linke!) Historiker dahinterkommen, daß der Sturz des Sozialismus kein „Scheitern“ war, sondern Sabotage, so sollte man doch meinen, daß es einfacher und auch besser wäre, den Rest der Menschheit von der Richtigkeit des Stalinschen Weges zu überzeugen, anstatt weiterhin den süßen Verführungen des bürgerlichen Lebens nachzuhängen, sich am Konsum zu berauschen oder in Resignation zu verfallen. Der Autor des nachfolgenden Beitrags läßt die Frage offen:

Chruschtschows Lügen
Von Dr. Seltsam (Berlin)

Ende Mai, kurz vor der Langen Nacht der Wissenschaft hatte der Verlag Das neue Berlin in einen Hörsaal der Humboldt-Universität zu Vortrag und Buchvorstellung des englischen Mediävisten Grover Furr eingeladen. Ein Mediävist ist ein Historiker, der gelernt hat, aus kleinsten Andeutungen und Widersprüchen in mittelalterlichen Texten die zugrundeliegenden Ideologien und Zwecklügen der feudalen Autoren zu entschlüsseln und die wahre Absicht der Auftraggeber zu enthüllen. Mit dieser Ausbildung ist Grover Furr prädestiniert, die sogenannte „Geheimrede“ Chruschtschows vom 25. Februar 1956 zu überprüfen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß an dieser Rede überhaupt nichts Wahres dran ist, sondern mindestens sechzig Lügen verbreitet wurden, die allesamt Chruschtschows Vorgänger Stalin diskreditieren.

Das ist Chruschtschow bis heute gelungen, denn aus diesem XX. Parteitag der KPdSU resultiert die Spaltung des Weltkommunismus und letztenendes die aktuelle erbärmliche Lage der Linken Kräfte in der Welt.

Wieviel unsinniger Zank und Streit ist durch diese Rede ausgelöst worden, und am Ende hat nur der Kapitalismus davon profitiert! „Wenn ich nicht mehr bin, werden Euch die Imperialisten ersäufen wie junge Katzen“, prophezeite einst Stalin seinem Politbüro und wie wir heute sehen, hatte er wohl Recht damit. Daß es ein halbes Jahrhundert brauchte, um diese Prophezeiung zu erfüllen, spricht für die trotz aller Problemen dem Sozialismus innewohnenden Kräfte. Selten traf man solch eine Versammlung aller kommunistischen Fraktionen friedlich in einem Raum. Internationale Kommunisten wollten Trotzki wiederbeleben, die MLPD war mit Philosoph und Singegruppe aufmarschiert und meinte, ihr Willi Dickhut habe bereits vor vierzig Jahren alles Wichtige zur Sowjetunion restlos verkündet. Ein Alt-MLer, zweifellos aus dem Westen, hatte die grüngebundene „Polemik über die Generallinie“ vom Oberbaumverlag zum Vorzeigen dabei mit dem Text „Über den Pseudokommunismus Chruschtschows“ von 1963, verfaßt von einer Redaktionsgruppe des ZK der KP Chinas unter Mitwirkung Mao Tsetungs, der für die bösen Sottisen zuständig war; den Verlag des Nachdrucks wie die dahinterstehende Studenten-KPD gibt es schon seit über einem Vierteljahrhundert nicht mehr, so mußten die Altmarxisten aus der DDR, die diese chinesischen Perlen erstaunlicherweise noch nie gelesen haben, das Buch mit Handys knippsen und versuchen, es im materialistischen Altpapierhandel zu erwerben. Damals haben unsere „Roten Buchläden“ in allen Kleinstädten der BRD diese Chinaheftchen tonnenweise importiert, in Peking nie bezahlt und damit die Kosten des jeweiligen Parteiaufbaus bezuschußt. Wir hatten ja zu Beginn der siebziger Jahre über acht KPD/ML-Parteien, dazu fünf Trotzkistengruppen und an die zwanzig örtliche linke Zirkel mit zum Teil lustigen Namen wie Thälmann-Dampfbund, wie sie von der Konkurrenz genannt wurden. Die Entstehung all dieser Gruppen war wesentlich durch die Spaltung des Weltkommunismus nach 1956 verschuldet, wobei die fest und treu weiterhin zur Sowjetunion haltenden Gruppen „Miese Revisionistenschweine“ hießen und die anderen „Verantwortungslose Spalter und Agenten“, bzw. „Maoisten“, was genauso schwachsinnig war.

Auch wenn es hier etwas respektlos klingt, so war diese Zeit doch voller politischer Diskussionen, Informationen, Schulungen und Hoffnungen, man konnte richtig denken lernen, Marx lesen und ein Gefühl für die historischen Fraktionskämpfe der Arbeiterbewegung bekommen, das man nur durch Bücher niemals nachfühlen konnte, denn manchmal gingen diese Gruppen auch mit Eisenstangen aufeinander los oder prügelten sich bei Erste-Mai-Demos um die Führung bei den zu radikalisierenden Aufzügen. Die großen Massen der unzufriedenen Arbeiter konnte keine dieser Fraktionen organisieren, was manche Intellektuelle in der Folge zu der irrealen Ansicht brachte, die gäbe es gar nicht mehr.

So war ich mit Wehmut anwesend, weil ich selber die linken Spaltungen schon immer bescheuert fand, gern mit KPD/ML-Charly gegen die NPD kämpfte, weil der starke Steinsetzer fünf Faschos auf einmal verdrosch oder am Ersten Mai mit der Hafenzelle des KB Hamburg marschierte, eine einzige Familie mit acht starken Söhnen, alles Schauerleute, die lustig und zotig waren und zur Not den halben Hafen alleine stillegen konnten, bevor die Container kamen und alle arbeitslos machten. Mit Wehmut bedachte ich, warum wir Linken uns eigentlich gegenseitig mehr bekämpft haben als die Bourgeoisie. Ich streikte mit dem DKP-Betriebsrat in der Druckerei und reiste mit Jusos ins KZ Mauthausen und mit Sympatisanten des Sozialistischen Büros nach Brokdorf und kaufte DDR-Bücher beim „Internationalen Buch“ am Ernst-Reuter-Platz in Berlin/West und bestellte linke Bücher bei Trikont in München und beim KABD in Schwaben. Jede linke Fraktion (bis hin zur RAF) hatte etwas Sympatisches und ein paar liebenswerte Genossen. Die vollständige Atomisierung des Kommunismus, die mit Chruschtschow begann, hat keine überlebt.

Anwesend war auch der letzte linke Regierungschef der DDR, Hans Modrow und erzählte, daß das NKWD nach Stalins Tod viele Kriminelle aus den Gefängnissen freiließ um die russische Bevölkerung zu terrorisieren und für Ruhe und Ordnung, also für Beria, zu gewinnen. Und der ebenfalls anwesende DDR Barde Malcolm Z meinte knurrig, Domenico Losurdo habe in seinem letzten Buch schon alles dazu gesagt und dieses Furr-Buch brächte gar nichts Neues: „Mehr als drei Jahrzehnte lang hat diese Geheimrede, die das Bild eines krankhaft blutgierigen, eitlen und recht mittelmäßigen oder auf intellektueller Ebene sogar lächerlichen Diktators skizziert, fast alle zufriedengestellt“, jedenfalls alle Antikommunisten. (Losurdo in der Jungen Welt am 11.8.2012 über „Stalin…Schwarze Legende“.)

Furrs Buch ist jedoch anders, es bringt keine objektive Übersicht der Stalinzeit, sondern untersucht lediglich alle Behauptungen der Chruschtschowrede und fragt nach den Hintergründen. Schon im ersten Semester Geschichtsstudium lernt man „Quellenkritik“, d.h. unter anderem, daß man einem Text, der von einem Nachfolger zur Abgrenzung von seinem Vorgänger vorgetragen wird, absolut nichts glauben darf, weil hier das vorwiegende Interesse natürlich nicht die historische Wahrheit ist, sondern stets die positive Herausstellung der neuen Linie und der neuen führenden Personen. Wer noch ein paar Bücher über die Stalinzeit zu Hause hat, wird in den Anmerkungen und Belegen immer wieder auf massenhaft Zitate aus der „Geheimrede“ stoßen. Das ist unter Historikern aber gänzlich verboten, so entstand durch die Jahrzehnte eine völlig verfälschte Darstellung dieser Epoche, weil alle voneinander abgeschrieben haben. Es wäre ja auch gar nicht zu verstehen, wie eine so erbärmliche Figur wie Chruschtschow sie vorführt, überhaupt in der Lage gewesen sein kann, die UdSSR zu industrialisieren und sogar über die stärkste Militärmacht seiner Zeit, den deutschen Faschismus zu obsiegen. Das Buch, das Furr jetzt bringt, hätte also schon seit Jahrzehnten die Aufgabe aller ernsthaften Historiker sein müssen: erstmal die Zuverlässigkeit aller Quellen zu prüfen, bevor man daraus Schlüsse zieht. Nach Furr können mithin 95 % aller Bücher über Stalin eingestampft werden. Man darf jedenfalls NICHTS glauben! Beispiele:

  • Lenin habe in einem „Testament“ die Ablösung Stalins als Generalsekretär gefordert. Stimmt nicht. Stalin habe einen „Kult“ um seine Person erzeugt, um unangreifbar zu werden. Stimmt nicht, es waren die Provinzsekretäre, die Angst vor verfassungsmäßigen Wahlen hatten und Oppositionelle wie Radek, die den Stalinkult erzeugten, um sich selber zu verstecken.
  • Stalin sei ein Diktator, der alles alleine entschied. Stalin habe viele Unschuldige töten lassen, habe Hinrichtungslisten unterzeichnet und mithilfe von Massenrepressionen Gehorsam erreichen wollen. Stimmt nicht. Die Listen waren Vorschläge der Staatsanwaltschaft, gegen wen Prozesse geführt werden sollten. Die wurden jeweils vom gesamten Politbüro zur Kenntnis genommen, d.h. auch von Chruschtschow. Da der außerdem die „Säuberungen“ in der Ukraine durchführte, hat Chruschtschow sogar mehr Tote auf dem Gewissen als Stalin und war der „Blutrünstigste von allen“(Furr).
  • Der NKWD-Chef Jeshow wurde wegen falscher Anschuldigungen, Folter und Massenrepressionen angeklagt und verurteilt, danach wurden Hunderttausende Gefangene freigelassen (1938).
  • Stalin ließ Kirow und alle Parteiführer umbringen, die gegen ihn waren: Eine Ausrede Chruschtschows, weshalb er alles mitgetragen hat. Für die juristischen Rehabilitationen der hingerichteten Parteiführer unter Chruschtschow gab es überhaupt keine neuen Beweise.
  • Die in den Moskauer Prozessen Bestraften seien alle unschuldig gewesen. Dafür fand Furr keinerlei Belege. Dagegen gab es wirkliche umfangreiche Verschwörungen der Rechten und Trotzkisten. Die Erfolterung von Aussagen in den Prozessen läßt sich nicht beweisen, es gibt Befehle von Stalin gegen Folter.
  • Stalin mußte „nach Aktenlage“ urteilen. Wenn Staatsanwälte, Erste Gebietssekretäre etc. Akten fälschten, so hintergingen sie ihn; ein Brief an Kaganowitsch bekräftigt Stalins Gutgäubigkeit gegenüber den Vernehmungen (Furr, 282). Im Unterschied zu Chruschtschow, der Beria unter falschen Anschuldigungen ermorden ließ, ließ Stalin niemals Leute ohne Beweis oder Urteil hinrichten. „Chruschtschow war ein politischer Gangster, er war in Wirklichkeit der Verbrechen schuldig, die er in seiner Geheimrede Stalin unterschob.“ (Furr, 255) Er wollte mit seiner Rede Beschuldigungen gegen seine Person zuvorkommen, um Generalsekretär zu werden und eine neue politische Linie durchzuführen. „Chruschtschows Rede ist das Grundlagendokument des „Anti-Stalin“-Paradigmas…

Kein Student kann die Geschichte der Stalinzeit länger auf althergebrachte Weise betrachten, sobald er sich von der Tatsache überzeugt hat, daß die Rede kaum mehr ist als eine…sorgfältig ausgeklügelte Lüge.“ (Furr 174)

  • Im Krieg habe Stalin die SU geschwächt durch Liquidierung der Kommandeure, Nichtbeherzigung der Angriffswarnung und war zu Kriegsbeginn wochenlang arbeitsunfähig. Stimmt alles nicht. Über ein Drittel des Buches enthält die Dokumente, die die Anschuldigungen der Geheimrede widerlegen, so wurde die Anzahl der bestraften Kommandeure maßlos übertrieben, Verbindungen zur Reichswehr bestanden tatsächlich, eine Mobilisierung der Sowj. Truppen hätte den Kriegszustand erst hervorgerufen und Stalins Arbeitsumfang nach Kriegsbeginn war riesig, er organisierte Rüstung und Verteidigung, beweisbar.
  • Stalin als schlechter Heerführer – so langsam bekommt man einen Geschmack dafür, wozu Stalin als Trottel vorgeführt wird, jedenfalls ist Marschall Shukow stets voll des Lobes über Stalin, obwohl der ihn nach 1945 wegen Diebstahl degradieren ließ (und nicht aus Eifersucht, er ließ sogar Shukow auf weißem Schimmel die Siegesparade abnehmen).

Über den Nichtangriffspakt, Gulag und Katyn sprach Chruschtschow nicht, schade, die Gegenargumente hätten mich sehr interessiert, man findet sie aber an anderer Stelle in den offiziellen Verlautbarungen der Sowjetregierung. Stalin sei Antisemit, Paranoiker, Feind von Polen und Ärzten usw.

Nun, er hatte lebenslang jüdische Ärzte im Kreml und begründete sogar zweimal eine Heimstatt für die Juden: den autonomen Bezirk Birobidschan 1926 und die Teilungserklärung der UNO 1948 sowie die ersten Waffen aus der CSSR; tatsächlich ist Israel eine stalinistische Gründung. Die polnische Geschichtsparanoia bedarf gesonderter Behandlung.

Wahrscheinlich war Stalin kein Blutsäufer, sondern eher ein „milder Diktator“, wie Thomas Mann meinte, und selbst sein Gegner Churchill ehrte Stalins Leistung, „er begann im Russland des Hakenpflugs und verließ es im Besitz der Atomkraft.“ Jedenfalls war der radikale Bruch mit Stalins Politik nötig, um den Friedensversprechungen des US-Imperialismus glauben zu schenken, was sich heute ganz offen als totaler Irrsinn entpuppt, von der einsamen, besoffenen Abgabe der Krim an die Ukraine ganz zu schweigen. Als Stalin starb, erstarrten Millionen Menschen vor Trauer; als Chruschtschow abtrat, galt er als unberechenbarer Clown und Betrüger. Die Antikommunisten aller Parteien werden sich nach Furrs Buch warm anziehen müssen, alles Böse auf Stalin zu häufen geht nun nicht mehr.


Grover Furr
Chruschtschows Lügen
Verlag Das neue Berlin, 2015
24,99 Euro

Quelle: Kommunisten-Online

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4 Antworten zu 60 Lügen – und die mißliche Lage der Linken heute…

  1. Senatssekretär FREISTAAT DANZIG schreibt:

    Hat dies auf Aussiedlerbetreuung und Behinderten – Fragen rebloggt und kommentierte:

    Glück, Auf, meine Heimat!

  2. Pingback: "Sascha Iwanows Welt"

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