Und heute? Wir sind weit davon entfernt. Wenn man die derzeitige politische Lage in der Bundesrepublik Deutschland analysiert, so fällt auf, daß im Bewußtsein der Bevölkerung durchaus eine gewisse Zufriedenheit vorhanden ist, nämlich die, daß es in unserem Lande doch eine Demokratie gäbe und wir ja doch eine gewisse Freiheit hätten. Zum Beweis schaue man sich nur den Veranstaltungs-kalender an. Zwar sei vieles im Argen. Es sei nicht gut, daß die Reichen immer reicher würden, es gäbe ja einige Arme und ein paar Arbeitslose. Aber die bekämen schließlich Arbeitslosenunterstützung. Und auch von Hartz4 könne man ja ganz gut leben. (Tatsächlich? Ist das wirklich so?) Nunja. Der Eindruck täuscht.
Die Massenmedien befinden sich größtenteils in den Händen der herrschenden Klasse, und die bestimmt, was die Leute so lesen, im Fernsehen erfahren oder im Radio hören dürfen. Und die Bourgeoisie hat zwei Methoden zur Sicherung ihrer Macht: „Wenn es den Kapitalisten so erscheint, daß ihre politische Macht ins Wanken gerät, gehen sie zur Methode der Unterdrückung über. Wenn ihre politische Macht stabil genug ist, greifen sie zur Methode der Verdummung.“ (siehe: Rafik Kulija – Arbeiterklasse)
Tatsache ist, wir leben in einem imperialistischen Land, wo der Lebensstandard zwar noch relativ hoch ist im Vergleich zu einem Großteil der Nachbarländer, die Ausbeutung der Arbeiterklasse aber merklich zugenommen hat. Die steigenden Lebenshaltungskosten und die rasant wachsende Armut sind nur ein Index dafür. Davon betroffen ist millionenfach zu allererst die Arbeiterklasse (Lohnarbeiter, Leiharbeiter, kleine Angestellte, verarmte Kleinunternehmer, Intellektuelle usw.) Es gibt sie also die Arbeiterklasse! Nur daß sie sich noch nicht einigen kann. Logischerweise sind natürlich auch die Profite des Monopolkapitals enorm in die Höhe geschnellt. Doch die Probleme in der Politik nehmen zu, was dazu führt, daß die Bourgeoisie zunehmend nach gewaltsamen Mitteln strebt. Die Lösung aller dieser Probleme kann also perspektivisch nur darin bestehen, daß die derzeit herrschenden Verhältnisse auch gewaltsam geändert werden, und zwar durch diejenigen, die am meisten darunter zu leiden haben, nämlich die Millionenmassen des werktätigen Volkes, denn ein friedliches Hinüberwachsen in sozialistische Produktionsverhältnisse in unmöglich. Die nachfolgende Rede von M.W. Frunse handelt von der proletarischen Revolution. Bei einem Vortrag, gewidmet W.I. Lenin, im Jahre 1925 sagte Genosse Frunse:
In der heutigen Versammlung, glaube ich, besteht keine Veranlassung, auf den Beweis der Richtigkeit der These einzugehen, daß der Krieg die Fortsetzung der Politik ist. Die Erfahrungen des imperialistischen Krieges und noch mehr die Erfahrungen unseres Bürgerkrieges, die Erfahrungen der Epoche der proletarischen Revolution haben auf die anschaulichste Weise ihre Richtigkeit bewiesen.
Was ist Leninismus?
Die Strategie und Taktik des proletarischen Kampfes, Genossen, ist eben das, was wir mit vollem Recht den Leninismus nennen können. Der Leninismus ist die Verwirklichung und Weiterentwicklung jener Lehre, die von Marx und Engels begründet wurde. Aber der Leninismus ist eine besondere Anwendung der marxistischen Theorie; das ist keine einfache Wiederholung jener Thesen, die Marx und Engels aufgestellt haben – das ist die Weiterentwicklung dieser Thesen, ihre Erweiterung und Bereicherung als Theorie des Klassenkampfes. Der Leninismus ist die Strategie und Taktik der Arbeiterklasse, er ist die Lehre von der Führung des Kampfes der Arbeiterklasse, die Lehre davon, wie die Arbeiterklasse handeln muß, um ihren Sieg zu sichern [s.Anmerkung 62]
Die politische Strategie Lenins
Deshalb ist es für uns, angesichts dieser Verbindung, von der ich gesprochen habe, dieses Zusammenhangs, der zwischen der militärischen Tätigkeit und der politischen Tätigkeit besteht, dieses Zusammenhangs, der besonders anschaulich in der jetzigen Epoche der revolutionären proletarischen Diktatur ist, von grundsätzlicher Wichtigkeit, recht tief mit dem Wesen des Leninismus – dieser „Strategie“ und „Taktik“ des proletarischen Kampfes – vertraut zu sein. Die politische Strategie basiert auf der Berücksichtigung der Hauptmomente der Massenbewegung, auf der Berücksichtigung der kämpfenden Klassenkräfte. Sie studiert das Wechselverhältnis zwischen diesen Kräften, studiert ihr spezifisches Gewicht und ihren Charakter und entwirft schließlich, unter Berücksichtigung von Zeit und Raum, den entsprechenden strategischen Plan für den politischen Kampf.
Über die Fähigkeit der Intuition
Um gleichermaßen sowohl auf dem Gebiet der reinen Politik als auch im Militärwesen ein guter Stratege zu sein, sind besondere spezifische Eigenschaften erforderlich. Die wichtigste von ihnen ist die sogenannte Intuition [s.Anm.63], die Fähigkeit, sich schnell in der ganzen Kompliziertheit der uns umgebenden Erscheinungen zurechtzufinden, auf das Wichtigste einzugehen und auf der Grundlage der Berücksichtigung dieses Wichtigsten einen bestimmten Plan des Kampfes der Arbeit zu entwerfen. Das also ist jene Eigenschaft, jene Fähigkeit der Intuition, mit unser verstorbener Führer, der Genosse Lenin, Im höchsten Grade begabt war. Wenn man seine Werke nimmt – und ich habe heute Buch für alle Bände seiner Werke durchgeblättert, wobei Ich mich hauptsächlich mit jenen Artikeln beschäftigte, die diese oder jene Beziehung Roten Armee und zum Militärwesen aufweisen –, selbst wenn seine Reden, Artikel, Briefe und anderes flüchtig durchsieht, so wird man immer und immer wieder von jener kolossalen Kraft der Intuition, jenem gründlichen Eindringen in die Tiefe, in das Wesen aller Erscheinungen, das für den Genossen Lenin im Verlauf seiner ganzen revolutionären Tätigkeit so charakteristisch ist, in Erstaunen gesetzt. Mit äußerst seltenen Ausnahmen können wir sagen, daß sich seine Einschätzungen und die Prognose kommender Ereignisse durch unglaubliche Tiefe und Scharfblick ausgezeichnet haben. Deshalb ist für uns alle das Studium der politischen Strategie des Genossen Lenin von größtem Interesse.
Die Große Sozialistische Oktoberrevolution – ein historischer Sieg des Proletariats
Wir haben den Sieg errungen, wir haben jetzt eine proletarische Diktatur, aber bevor wir den Sowjetstaat mit der Diktatur der Arbeit errichten konnten, machten wir eine sehr große Zeitspanne langwieriger Vorbereitung und vorausgehenden Kampfes durch. Wir können unseren revolutionären Kampf, vom Standpunkt der politischen Strategie aus, in drei Etappen einteilen: die Periode bis 1917, bis zur Oktoberrevolution, wo wir uns mit dem Sammeln der revolutionären Kräfte beschäftigten, die Kader der künftigen proletarischen Armee formierten und uns zum Kampf vorbereiteten; die zweite Periode ist die Zeit des unmittelbaren Kampfes, der Oktoberaufstand; und die letzte Periode, das ist der Kampf um die Erhaltung der Diktatur in den Händen der Arbeiterklasse [s.Anm.64]. In allen diesen drei Perioden der revolutionären Tätigkeit des russischen Proletariats war auf Schritt und Tritt das Denken des Genossen Lenin als eines Führers und Strategen in der deutlichsten Weise fühlbar. Sowohl uns als auch der künftigen Generation von Revolutionären gibt Genosse Lenin glänzende Beispiele der strategischen und taktischen Kunst. Seine Führung bildet ein über alle Maßen erhabenes, in seiner Genialität einzigartiges Beispiel der Führung der Massen im Kampf.
Über die Vorbereitung der Oktoberrevolution
Ich gehe jetzt auf das Moment der Vorbereitung unserer Revolution ein. Um den Sieg zu erringen, war es erforderlich, die entsprechenden Mittel bereitzustellen, jene Armee auszubilden, die die Festungen des Klassenfeindes erstürmt. Die erste Aufgabe, die vor dem Organisator der künftigen Siege der Arbeiterklasse stand, bestand darin, die Kader dieser revolutionären proletarischen Armee auszubilden. Genosse Lenin war sich bereits in den ersten Jahren seiner Tätigkeit, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, völlig klar über den Charakter und die Formen der Organisierung dieser Kader. Bereits damals machte er sich ein Bild der ganzen Arbeit, die die revolutionäre Partei des Proletariats zur Schaffung der Bedingungen für die künftigen Siege zuleisten hatte. Dieses Bild war in seinen zahlreichen Artikeln und Broschüren jener Zeit bis in alle Einzelheiten dargelegt.
Die wichtigste Frage der Organisation
Genosse Lenin war von den ersten Schritten seiner Tätigkeit an der Meinung, daß wir eine Armee gestählter Kämpfer schaffen müssen, eine Armee, die keine Zweifel, keine Furcht kennt, eine Armee, durch die härteste und strengste Disziplin zusammengeschweißt ist. Hieraus ergibt sich die gewaltige Bedeutung, die er der Frage der Organisation beimaß. Die Frage der Organisation war in seiner Vorstellung durchaus keine Angelegenheit von zweitrangiger Bedeutung. Seiner Meinung nach minderte derjenige, der sich auf dem Gebiet der Organisationsprobleme irrte, selbst seine richtigsten Gedanken, Thesen und Anschauungen auf allen übrigen Gebieten der politischen Tätigkeit zu einem Nichts herab.(…)
Die Arbeiterbewegung im zaristischen Rußland
Sie wissen, daß gerade diese Frage die russische Arbeiterbewegung in zwei Teile gespalten hat: in den menschewistischen Zweig und in den bolschewistischen Zweig. Genosse Lenin stellte solche organisatorischen Prinzipien auf, die eine wirklich kämpferische revolutionäre Partei schmieden sollten, die aus dem Schoß der Arbeiterklasse alles Aktive, Feste und im revolutionären Kampf bewährte, was dort zu finden war, herausziehen sollten, um aus diesem besten, auserlesenen Teil der Arbeiterklasse die Avantgarde der proletarischen Bewegung zu schaffen. Und diese Aufgabe wurde von Genossen Lenin glänzend gelöst. In Gestalt der Kommunistischen Partei (Bolschewiki) erhielt das Proletariat unserer Union gestählte, eiserne Kader der revolutionären Armee. Die Leninsche Strategie und Taktik der Revolution in dieser Epoche entsprang einer bestimmten Einschätzung der „gegenwärtigen Lage“, heißt der damaligen Lage und der Perspektiven ihrer Entwicklung. Diese Einschätzung ergab sich aus der allgemeinen Einschätzung der Rolle des Proletariats im Klassenkampf.
Wie wurde diese Lage von Genossen Lenin beurteilt?
Das nächste strategische Ziel bestand darin, die Selbstherrschaft zu stürzen und eine demokratische Republik zu gründen. Die Hauptkraft, den Sieg sicherzustellen hatte, war die Arbeiterklasse; die Arbeiterklasse mußte die Bauernschaft anführen. Der Feind war vom Standpunkt der Klassenanalyse aus, wie sie Genosse Lenin gab, die Selbstherrschaft, die sich auf den feudalen Adel stützte und die als Reserve liberale Bourgeoisie besaß, die bereit war, für die geringsten Zugeständnisse auf deren Seite zu treten. Hieraus ergab sich die Taktik der proletarischen revolutionären Partei. Sie mußte, nach der Meinung Lenins, nach seiner Einschätzung, darin bestehen, dieser liberalen Bourgeoisie, die faktisch zur Unterstützung der Selbstherrschaft dienen konnte und in der Folge auch wirklich diente, die Möglichkeit zu nehmen, ihren Einfluß auf die kleinbürgerlichen Massen, und insbesondere auf die Bauernschaft, zu festigen. Das war die Taktik des Kampfes der Arbeiterklasse um die Hegemonie über die Bauernschaft, über die Kleinbourgeoisie. Sie sehen, wie sich hier die taktische Linie abzeichnet. Genosse Lenin erkennt das Wesen einer jeden Klasse, deckt ihre Physiognomie und Natur auf, bestimmt, wohin sie gehen kann, ob sie in der Lage ist, für diese oder jene Ziele zu kämpfen, und auf der Grundlage dieser strengen klassenmäßigen Analyse baute er die Taktik und Strategie des proletarischen Kampfes auf.
Die Strategie und Taktik Lenins
Diese gesamten nahezu zwanzig Jahre, die seit dem Ende der neunziger Jahre bis zum Zeitpunkt der Februarrevolution verflossen sind, haben in vollem Ausmaße die Richtigkeit seiner strategischen Einschätzung und die Richtigkeit jener taktischen Schlußfolgerungen bestätig die sich hieraus ergaben und als Grundlage des strategischen Zieles dienten. Die strategische Einschätzung und der strategische Plan wäre für diese ganze Periode unserer revolutionären Bewegung ein für allemal gegeben. Was die taktischen Schlußfolgerungen betrifft, so haben sie sich natürlich geändert. Die Taktik ist ein Teil der Strategie, ist ihr unterstellt und von ihr abhängig. Die Taktik hat es nicht mit Ereignissen zu tun, die größere Zeitspannen umfassen – sie hat es mit den sich ändernden Bedingungen der jeweiligen konkreten historischen Situation zu tun, und deshalb kann und muß sich die Taktik ändern. Und in der Tat, wir sehen, wie sich die proletarische Taktik im Verlauf dieser Periode änderte, während die strategische Hauptlinie unverändert blieb.
Nehmen wir das Jahr 1905.
Am 9. Januar kam es zu einer spontanen Massenerhebung des Proletariats. Wie sah damals die Taktik unserer Leninschen Partei aus? Es war die Taktik des Druckes, des entschlossenen Angriffs auf die Selbstherrschaft. Wir hatten die Losung des bewaffneten Aufstandes herausgegeben, und unsere ganze Propaganda, Agitation und Organisationsarbeit organisierten wir vom Standpunkt der Vorbereitung aller Bedingungen für einen Sieg. Der Zusammenstoß In den Jahren 1905 bis 1906 endete mit dem Sieg der Selbstherrschaft und jener Klassengruppen, die sich in ihrer Schlepptau befanden. Im Ergebnis dessen ändert sich die Lage, es beginnt die Periode der Depression. Es ändert sich auch die Taktik der proletarischen Partei. Unter Beibehaltung ihres ganzen revolutionären Wesens geht die proletarische Partei der Bolschewiki zu anderen Kampfesformen, zu anderen Kampfmethoden über: Anstatt die I. Staatsduma zu boykottieren, anstatt der Taktik eines offenen Kampfes um die Verwirklichung der Losung des bewaffneten Aufstandes ruft Genosse Lenin die Partei auf, sich an der Arbeit der Staatsduma zu beteiligen, ruft die Partei auf, systematisch an der Organisierung der revolutionären Massen zu arbeiten.
Das muß man erstmal begreifen!
Ich muß Ihnen sagen, daß diese Änderung der Taktik nicht sofort von der ganzen Masse der damaligen bolschewistischen Kader verstanden wurde. Viele Genossen hielten diese neue Taktik für eine opportunistische, sahen in ihr einen Verrat an der revolutionären Grundidee des Bolschewismus. Es bildete sich eine ganze Strömung unter der Bezeichnung „Otsowismus“. An ihrer Spitze stand der Ökonomist Bogdanow, der sich jetzt nicht mehr in den Reihen unserer Partei befindet. Damals stand er aber in den Reihen unserer Partei und hatte eine ziemlich bedeutende Stellung inne. Die „Otsowisten“ traten für die Abberufung unserer Fraktion aus der Staatsduma und für die Fortsetzung der Taktik des Boykotts ein. Wie die Geschichte gezeigt hat, war Genosse Lenin durchaus im Recht.
Lenins Einschätzung war richtig
Weiter. Es nähert sich der Zeitpunkt des imperialistischen Krieges. Genosse Lenin orientierte sich, dank seinem genialen Scharfblick, sofort in den Wechselbeziehungen der sozialen Hauptkräfte, gibt eine völlig richtige Einschätzung der anbrechenden Periode und legt auf der Grundlage derselben die entsprechende taktische Linie fest. Und wir sehen wiederum, wie alle seine Voraussagen eintreffen; wir sehen, daß in Rußland die Februarrevolution ausbricht; wir sehen, daß sich, in vollster Übereinstimmung mit seiner Prognose, die Klassengegensätze weiter zuspitzen und daß sich der große Oktobersieg vorbereitet.
Eine neue taktische Orientierung
Genossen, es ist auch hier nicht müßig festzustellen, daß nach der Februarrevolution in den Reihen unserer Partei, zwar nicht mit einem Mal, nicht vom ersten Moment an, ein Schritt vorwärts getan wurde in der Richtung zu einer neuen Einschätzung, zur Stellung neuer Aufgaben. Genosse Lenin war in den ersten Tagen nicht bei uns, er war im Ausland, und als er in Petersburg ankam, da konnte in der ersten Zeit die Mehrzahl der führenden bolschewistischen Kreise nicht sofort seine Einschätzung und jene Schlußfolgerungen, die sich aus ihr ergaben, begreifen. Nicht sofort wurde der Übergang von der alten strategischen Linie, die in der Losung gipfelte „Demokratische Revolution, demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“, zur Losung „Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft“ begriffen. Dies erklärt sich dadurch, daß die Position des Genossen Lenin eine kardinale Umorientierung, eine Neueinschätzung der Haupttriebkräfte und die Festlegung der neuen strategischen Linie bedeutete. Das frühere Ziel – der Sturz der Selbstherrschaft – war erreicht; das Proletariat bereitet sich jetzt zum Kampf um die Diktatur des Proletariats vor. Die Februarrevolution, durch die in den Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten die Parteien der Kompromißler, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, ein Übergewicht erlangt hatten, stellte faktisch auch die Verwirklichung unserer alten Losung von der demokratischen Revolution dar. Die revolutionäre proletarische Partei mußte aber weiter vorwärtsschreiten, denn die Hauptaufgabe bestand nicht im Sturz der Selbstherrschaft, sondern in der Vernichtung der Klassenherrschaft der Bourgeoisie.
Worin bestand diese Leninsche Umwertung der politischen Werte?
Sie bestand darin, daß es nach der Meinung Lenins in der neuen Situation außer der Partei des Proletariats (der Bolschewiki) bereits keine anderen revolutionären Parteien mehr gab, daß faktisch die Menschewiki, die Sozialrevolutionäre und die anderen eine Stütze der Diktatur der Bourgeoisie waren und daß die Linie der proletarischen Politik, dis Linie der proletarischen Strategie den Weg der Isolierung dieser Parteien von der Bauernschaft einschlagen mußte. Es wurde die Aufgabe des Kampfes um die Bauernschaft, aber schon nicht mehr gegen den Zarismus, nicht gegen die Großbourgeoisie, sondern gegen die Parteien der Kleinbourgeoisie, gegen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, in den Vordergrund gerückt. Auf dieser Linie entfaltete sich auch die Tätigkeit der bolschewistischen Partei. Die nachfolgenden Ereignisse bewahrheiteten glänzend diese Einschätzung. Sie führten dazu, daß die Kommunistische Partei Anfang Oktober in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierter, den entscheidenden Einfluß errang und ihren Einfluß innerhalb der Bauernmasse außerordentlich vergrößerte, wodurch eben die Grundlage für den Oktobersieg gelegt wurde.
Lenins operativer Führungsstil
Außerordentlich interessant ist es, jetzt die Rolle des Genossen Lenin zur Zeit dieses größten Ereignisses in unserer revolutionären Geschichte zu verfolgen, und zwar schon nicht mehr als eines Strategen und Politiker-Taktikers, sondern als eines rein militärischen operativen Führers. Genosse Lenin zeigte auch hier ein ganz ungewöhnliches Feingefühl und Können. Obwohl er damals – um sich der Verhaftung zu entziehen – nicht in Petrograd lebte, setzen nichtsdestoweniger die Einschätzung der Lage, die er in einer Reihe von Briefen und Aufzeichnungen an das ZK gegeben hat, sowie seine konkreten Vorschläge durch die Richtigkeit in allem Wesentlichen in Erstaunen, überraschen sie durch die Tiefe der Gedanken des Genossen Lenin. In seinen Hinweisen legte er nicht nur die allgemeine Linie der Taktik fest, die unser ZK einschlagen mußte, sondern er konkretisierte auch jene allgemeine Linie und setzte sie in bestimmte praktische Pläne um.
Gegen eine unentschlossene und schwankende Haltung
Zu diesem Zeitpunkt gab es, wie Ihnen bekannt ist, in unseren Reihen einige Schwankungen. Einige Genossen waren der Meinung, daß wir die Ereignisse zu stark forcieren; es schien ihnen, als sei die Periode der Vorbereitung, der Sammlung und Konzentrierung der Kräfte noch nicht beendet. Und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt tritt Genosse Lenin auf und legt eine Reihe Thesen vor, die mit unzweifelhafter Überzeugungskraft beweisen, daß es unerläßlich notwendig ist, sofort den bewaffneten Aufstand zu organisieren. Er gibt eine Analyse der Wechselbeziehungen der Klassenkräfte, wägt die Rolle jeder politischen Partei ab, wägt das spezifische Gewicht, die Rolle und den Einfluß unserer Partei ab, zieht die Rolle und die Kraft der Sowjets in Betracht, und im Ergebnis dieser sorgfältigen Analyse kommt er zu der Schlußfolgerung, daß der Zeitpunkt des Angriffs bedingungslos herangereift ist. In diesen seinen Schlußfolgerungen stützt er sich vor allem auf jene theoretischen Grundsätze, die uns als Erbe von Marx und Engels hinterlassen worden sind. Genosse Lenin wählte als echter Revolutionär in der Lehre von Marx und Engels alles das besonders sorgfältig aus, hob alles das besonders sorgfältig hervor, was das revolutionäre Wesen der marxistischen Theorie unterstrich, alles das, was irgendwie auf den Weg und die Methoden zur Durchführung des entscheidenden Zusammenstoßes sowie der hierfür entsprechenden Vorbereitung der proletarischen Kräfte hinwies.
Winterpalais
Was sagte Karl Marx über den Aufstand?
Als Ausgangspunkt für Genossen Lenin dienten folgende Zeilen von Karl Marx, die dem Aufstand gewidmet waren: „Nun ist der Aufstand eine Kunst, ebenso wie der Krieg oder andere Künste, und gewissen Regeln unterworfen, deren Vernachlässigung zum Verderben der Partei führt, die sich ihrer schuldig macht. Diese Regeln, logische Folgerungen aus dem Wesen der Parteien und der Verhältnisse, mit denen man in solchem Falle zu tun hat, sind so klar und einfach, daß die kurze Erfahrung von 1848 die Deutschen ziemlich bekannt mit ihnen gemacht hatte. Erstens darf man nie mit dem Aufstand spielen, wenn man nicht entschlossen ist, allen Konsequenzen des Spiels Trotz zu bieten. Der Aufstand ist eine Rechnung mit höchst unbestimmten Größen, deren Wert sich jeden Tag ändern kann; die Streitkräfte, gegen die man zu kämpfen hat, haben den Vorteil der Organisation, Disziplin und der herkömmlichen Autorität ganz auf ihrer Seite“ (Marx meint hier den „schwierigsten“ Fall des Aufstandes: nämlich den Aufstand gegen eine „unerschütterte“ alte Macht, gegen eine Armee, die unter dem Einfluß der Revolution und der Regierungsschwankungen noch nicht zersetzt ist). „Kann man nicht große Gegenmächte dagegen aufbringen, so wird man geschlagen und vernichtet. Zweitens, ist der Aufstand einmal begonnen, dann handle man mmit der größten Entschiedenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive ist der Tod jeder bewaffneten Erhebung; diese ist verloren, ehe sie sich noch mit dem Feinde gemessen hat. Überrasche die Gegner, solange ihre Truppen zerstreut sind, sorge täglich für neue, wenn auch kleine Erfolge; halte das moralische Übergewicht fest, das die erste erfolgreiche Erhebung dir gebracht; ziehe jene schwankenden Elemente an dich, die immer dem stärksten Anstoß folgen und sich immer auf die sicherere Seite schlagen; zwinge deine Feinde zum Rückzug, bevor sie ihre Kräfte gegen dich zusammenfassen können; kurz, [handle] nach den Worten Dantons, des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik: de l’audace, de l’audace, encore de l’audace!*“ [1] *(Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit!)
…und nun die Fortsetzung dieses Gedankens durch Lenin:
Lenin, der dieses Zitat in dem im September 1917 geschriebenen Artikel „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?“ anführt, entwickelt diesen Gedanken folgendermaßen weiter: „Hat die revolutionäre Partei nicht die Mehrheit in den Vortrupps der revolutionären Klassen und im Lande, so kann von einem Aufstand keine Rede sein. Außerdem ist für einen Aufstand notwendig:
- das Anwachsen der Revolution im gesamtnationalen Maßstab;
- der völlige moralische und politische Bankrott der alten Regierung, z.B. der ,Koalitlons’-Regierung;
- große Schwankungen im Lager aller Zwischenschichten, d.h. jener Leute, die nicht völlig für die Regierung sind, obwohl sie gestern noch völlig für sie waren.“ [2]
Nachdem Lenin die Unausweichlichkeit und Notwendigkeit des sofortigen bewaffneten Aufstandes nachgewiesen hatte, entwarf er den weiteren taktischen Plan seiner Durchführung. Hier einige Auszüge aus anderen Artikeln von ihm, die dem gleichen Thema gewidmet sind. Bereits im Jahre 1906 schrieb er in einem Artikel, der die Überschrift „Die Lehren des Moskauer Aufstandes“ trug: „Der Dezember hat weiter den tiefgründigen und von den Opportunisten vergessenen Satz von Marx anschaulich bestätigt, daß der Aufstand eine Kunst und daß die Hauptregel dieser Kunst die mit verwegener Kühnheit und größter Entschiedenheit geführte Offensive ist. Wir haben uns diese Wahrheit nicht genügend zu eigen gemacht. Wir haben diese Kunst, diese Regel der Offensive um jeden Preis, selbst nicht genügend gelernt und die Massen nicht genügend darin unterrichtet. Wir müssen jetzt mit aller Energie das Versäumte nachholen.
Es genügt nicht, die Menschen nach ihrem Verhältnis zu politischen Losungen zu gruppieren, darüber hinaus ist erforderlich, sie nach ihrer Einstellung zum bewaffneten Aufstand zu gruppieren. Wer gegen ihn ist, wer sich nicht auf ihn vorbereitet, den muß man rücksichtslos aus der Zahl der Anhänger der Revolution hinauswerfen, zu ihren Gegnern, zu den Verrätern oder Feiglingen jagen, denn es naht der Tag, an dem die Kraft der Ereignisse, die Lage des Kampfes uns zwingen wird, Feinde und Freunde nach diesem Merkmal voneinander zu scheiden.“ [3] Und weiter ebenda: „Seien wir dessen eingedenk, daß ein großer Massenkampf naht. Es wird der bewaffnete Aufstand sein. Er muß nach Möglichkeit an allen Orten zu gleicher Zeit erfolgen. Die Massen müssen wissen, daß sie zu bewaffnetem, blutigem, verzweifeltem Kampf schreiten. Todesverachtung muß die Massen ergreifen und den Sieg sichern. Die Offensive gegen den Feind muß aufs energischste durchgeführt werden. Angriff, nicht Verteidigung, muß die Losung der Massen sein, rücksichtslose Vernichtung des Feindes wird ihre Aufgabe sein; die Organisation des Kampfes wird leicht beweglich und elastisch sein; die schwankenden Elemente des Heeres werden in den aktiven Kampf gezogen werden. Die Partei des klassenbewußten Proletariats muß ihre Pflicht in diesem großen Kampfe erfüllen.“ [4]
Ich kann mich nicht um das Vergnügen bringen, noch einige Auszüge aus seinen Werken zu zitieren, die besonders klar die Ansichten Lenins der Frage der Vorbereitung und Organisierung des Aufstandes charakterisieren. Wladimir Iljitsch, der die von mir oben geschilderten Anschauungen von Marx und Engels zum Ausgangspunkt nahm, schrieb am Vorabend des Oktoberaufstandes: „Marx hat die Lehren aus allen Revolutionen über den bewaffneten Aufstand mit den Worten Dantons, des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik, so zusammengefaßt: ,De l’audace, de l’audace, encore de l’audace!’ Auf Rußland und auf den Oktober 1917 angewandt, heißt das: gleichzeitige, möglichst überraschende und schnelle Offensive auf Petrograd, unbedingt sowohl von außen wie von innen, sowohl aus den Arbeitervierteln wie aus Finnland, aus Reval und aus Kronstadt, Offensive der gesamten Flotte und Konzentrierung eines ungeheuren Kräfteübergewichtes…“ [5]
Quelle:
M.W. Frunse: Lenin und die Rote Armee, in: Ausgewählte Schriften, Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung (DDR), Berlin, 1956, S. 317-327.
Anmerkungen:
[62] Eine klare Definition des Leninismus hat J.W.Stalin im April 1924 in seinen Lektionen „Über die Grundlagen des Leninismus“ gegeben: „Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarische Revolution. Genauer: Der Leninismus ist die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution im allgemeinen, die Theorie und Taktik der Diktatur des Proletariats im besonderen. Marx und Engels wirkten in der vorrevolutionären Periode (wir nmeinen vor der proletarischen Revolution), als es noch keinen entwickelten Imperialismus gab, in der Periode der Vorbereitung der Proletarier zur Revolution, in jener Peiode, als die proletarische Revolution praktisch noch keine unmittelbare Notwendigkeit war. Lenin dagegen, der Schüler von Marx und Engels, wirkte in der Periode des entwickelten Imperialismus, in der Periode der sich entfaltenden proletarischen Revolution, als die proletarische Revolution bereits in einem Lande gesiegt, die bürgerliche Demokratie zerschlagen und die Ära der Sowjets eröffnet hstte.“ [6]
[63] M.W. Frunse wendet das Wort „Intuition“ im Sinne einer tiefen, wissenschaflichen Vorausschau an, im Sinne der Fähigkeit eines Führers oder Feldherrn, die bestimmenden Gesetzmäßikeiten der Ereignisse zu verstehen und schnell kühne Entschlüsse zu fassen, die den Erfolg sichern.
[64] Die Charakterisierung der Entwicklungstappen der Revolution nimmt Stalin mit erschöpfende Gründlichkeit in seinem Werk „Über die Grundlagen des Leninismus“ vor:
1. Etappe: 1903 bis Februar 1917.
2. Etappe: März 1917 bis Oktober 1917.
3. Etappe: Sie begann nach dem Oktoberumsturz.
Zitate:
[1] Karl Marx: „Revolution und Konterrevolution m Deutschland“; zitiert in W.I. Lenin: „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?“, Dietz Verlag, Berlin 1950, S. 62.
[2] ebenda, S. 64.
[3] W.I. Lenin: Die Lehren des Moskauer Aufstandes, in: Ausg.Werke in zwei Bänden, Bd.I, Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 548/549.
[4] ebenda, S. 551.
[5] W.I. Lenin: in: Ausg.Werke in zwei Bänden, Bd.II, Dietz Verlag, Berlin, S.149/150.
[6] J.W. Stalin, Werke, Bd.6, Dietz Verlag, Berlin, S.63/64.
Michail Wassiljewitsch Frunse (1885-1925) war ein bedeutender sowjetischer Staatsmann, ein talentierter Organisator und hervorragender Feldherr in Kampf gegen die konterrevolutionären Banden und Feinde der Sowjetunion. Unter dem zaristischen Regime war er ununterbrochenen Verfolgungen ausgesetzt, mehrmals wurde er verhaftet, zweimal zum Tode verurteilt und verbrachte sieben Jahre in Gefängnissen, im Zuchthaus und in der Verbannung. Das alles konnte den kämpferischen Geist des Kommunisten Michail Frunse nicht brechen. Noch während seiner Verbannung bereitete er sich und seine Gefährten auf die bevorstehenden revolutionären Kämpfe vor. Unter den Verbannten organisierte er einen Zirkel für Kriegswesen. Nach der Februarrevolution 1917 entfaltete Frunse im Auftrag der Partei eine energische Tätigkeit mit dem Ziel, die Soldaten der Westfront um die Bolschewiki zu scharen. In den Tagen der sozialistischen Oktoberrevolution nahm Frunse an der Zerschlagung der konterrevolutionären Kräfte teil. Während der entscheidenden Kämpfe gegen einen der ruchlosesten Henker des russischen Volkes, gegen den Erzkonterrevolutionär und Monarchisten Koltschak errangen die von M.W. Frunse geführten Truppen einen völligen Sieg über die amerikanischen und englischen Interventionstruppen, die russischen Weißgardisten und die zahlreichen Banden. Gegen Ende des Bürgerkrieges besiegte die Rote Armee unter der Führung Frunses noch einen weiteren gefährlichen Feind, den von amerikanischen, englischen, französischen und anderen Imperialisten ausgehaltenen „schwarzen Baron“ Wrangel. Dabei bewiesen die Kämpfer der Roten Armee einen außerordentlichen Heroismus. Im Jahre 1924 wurde Frunse von der Partei mit einer grundlegenden Militärreform der Sowjetischen Armee betraut. M.W. Frunse starb im Alter von nur 40 Jahren, in der Blüte seiner schöpferischen Fähigkeiten und Möglichkeiten. An seinem Grabe sagte Stalin: „…daß wir mit Genossen Frunse einen der lautersten, ehrlichsten und furchtlosesten Revolutionäre unserer Zeit verloren haben.“ Die kommunistische Partei hatte mit ihm einen ihrer treuesten und diszipliniertesten Führer verloren.
DOWNLOAD: Frunse Strategie und Taktik der Revolution
Siehe auch:
Wie kam es eigentlich zur Oktoberrevolution?
Die Oktoberrevolution in Rußland 1917
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Danke, Sascha, für diesen weiteren spannenden Literaturtipp!
🙂 Jetzt auch zum Herunterladen als pdf-Datei.
Danke; ich meinte allerdings das ganze Buch… hier drin? =>
Autor/in: Frunse, Michail V.
Titel: Ausgewählte Schriften. M. W. Frunse
Gewicht: 840 g
Verlag: Berlin : Ministerium des Innern
Erschienen: 1955.
Sprache: Deutsch
Zustand: gebraucht; gut
Kurzinfo: 565 S. ; 23 cm roter Kunststoffeinband ohne SU
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