Ein Vortrag über die Revolution von 1905 von W.I. Lenin
(gehalten im Januar 1917)
Jugendgenossen, Parteigenossen und -genossinnen!
Wir begehen heute den zwölften Jahrestag des „blutigen Sonntags“, der mit Recht als Beginn der russischen Revolution betrachtet wird. Tausende von Arbeitern – wohlgemeint keine Sozialdemokraten, sondern religionsfromme, kaiserfromme Leute – unter der Führung des Priesters Gapon gehen von allen Stadtteilen aus zum Zentrum der Hauptstadt, zum Platze vor dem Winterpalast, um dem Zaren eine Petition zu überreichen. Die Arbeiter gehen mit Heiligenbildern, und ihr damaliger Führer Gapon versicherte dem Zaren schriftlich, er bürge ihm für die Unverletzlichkeit seiner Person und bitte ihn, vor dem Volke zu erscheinen.
Das Militär wird aufgeboten. Ulanen und Kosaken greifen die Menge mit der blanken Waffe an, es wird geschossen gegen die waffenlosen Arbeiter, die auf den Knien die Kosaken anflehten, sie zum Kaiser zu lassen. Nach polizeilichen Mitteilungen gab es mehr als tausend Tote, mehr als zweitausend Verwundete. Die Erbitterung der Arbeiter war unbeschreiblich. Das ist das allgemeine Bild des 22. Januar 1905, des blutigen Sonntags. (…) Eben in diesem Erwachen der ungeheuren Volksmassen zum politischen Bewußtsein und zu revolutionärem Kampfe besteht die geschichtliche Bedeutung des 22. Januar 1905.
Der Irrtum der Reformisten
„Es gibt noch kein revolutionäres Volk in Rußland“ – so hat zwei Tage vor dem „blutigen Sonntag“ der damalige Führer der russischen Liberalen geschrieben, Herr Peter Struve, der damals ein illegales, freies, ausländisches Organ herausgab. So absurd erschien diesem „hochgebildeten“, hochnäsigen und hochdummen Führer der bürgerlichen Reformisten die Idee, daß ein analphabetisches Bauernland ein revolutionäres Volk gebären kann! So fest waren die damaligen – ganz wie die heutigen – Reformisten davon überzeugt, daß eine wirkliche Revolution unmöglich sei! (…)
Plötzlich kam alles ganz anders…
In einigen Monaten sah es vollständig anders aus! Hunderte revolutionäre Sozialdemokraten wuchsen „plötzlich“ zu Tausenden an, Tausende wurden zu Führern von 2 bis 3 Millionen Proletariern. Der proletarische Kampf erzeugte eine große Gärung, teilweise eine revolutionäre Bewegung, innerhalb der Masse von 50 bis 100 Millionen Bauern, die Bauernbewegung erzeugte Sympathie im Heere und führte zu Militäraufständen, zu bewaffneten Kämpfen eines Teiles des Heeres gegen einen anderen Teil. So geriet das ungeheure Land mit 130 Millionen Einwohnern in die Revolution, so ist aus dem schlafenden Rußland das Rußland des revolutionären Proletariats und des revolutionären Volkes entstanden.
Wie die Revolution begann
Diesen Übergang gilt es zu studieren, seine Möglichkeit, seine sozusagen Methoden oder Wege gilt es zu begreifen. Das wichtigste Mittel dieses Übergangs war der Massenstreik. Die Eigentümlichkeit der russischen Revolution besteht eben darin, daß sie nach ihrem sozialen Inhalte eine bürgerlich-demokratische, nach ihren Kampfesmitteln aber eine proletarische war. Sie war bürgerlich-demokratisch, weil das, was sie unmittelbar erstrebte und unmittelbar, mit ihren eigenen Kräften, erreichen konnte, die demokratische Republik, Achtstundentag, Konfiskation des enormen Großgrundbesitzes der Adligen war – alles Maßnahmen, die die bürgerliche Revolution in Frankreich in den Jahren 1792 und 1793 zum großen Teil verwirklicht hat.
Das Proletariat als führende Kraft
Die russische Revolution war gleichzeitig eine proletarische nicht nur in dem Sinne, daß das Proletariat die führende Kraft, die Avantgarde der Bewegung darstellte, sondern auch in dem Sinne, daß das spezifisch proletarische Kampfesmittel, nämlich der Streik, das Hauptmittel der Aufrüttelung der Massen und das am meisten Charakteristische im wellenmäßigen Gang der entscheidenden Ereignisse bildete. Die russische Revolution ist die erste – sie wird sicher nicht die letzte – große Revolution in der Weltgeschichte sein, in der der politische Massenstreik eine ungemein große Rolle spielte. Ja, man kann nicht einmal die Vorgänge der russischen Revolution, den Wechsel ihrer politischen Formen verstehen, ohne die Grundlage dieser Vorgänge und dieses Wechsels in der Statistik der Streiks zu suchen.
Ein wenig Statistik
Ich weiß sehr wohl, wie ungeeignet die trockenen statistischen Zahlen zu einem mündlichen Vortrag sind, wie sie die Zuhörer abschrecken können. Ich kann aber nicht umhin, Ihnen ein paar abgerundete Zahlen mitzuteilen, damit Sie die wirkliche, objektive Grundlage der ganzen Bewegung würdigen können. Die jährliche Durchschnittszahl der Streikenden in Rußland während zehn Jahren vor der Revolution war 43.000. Also die Gesamtsumme der Streikenden in einem ganzen Jahrzehnt vor der Revolution – 430.000. Im Januar 1905, in dem ersten Monat der Revolution, war die Zahl der Streikenden 440 000. Also in einem einzigen Monate mehr als im ganzen verflossenen Jahrzehnt! In keinem kapitalistischen Lande der Welt – selbst in den vorgeschrittensten Ländern so wie England, den Vereinigten Staaten Amerikas, Deutschland – hat die Welt je eine so große Streikbewegung erlebt wie in Rußland im Jahre 1905. Die Gesamtzahl der Streikenden war 2 Millionen 800 Tausend, mehr als anderthalb mal so groß wie die Gesamtsumme der Fabrikarbeiter! Das beweist natürlich nicht, daß die städtischen Fabrikarbeiter in Rußland gebildeter oder stärker oder kampfesfähiger waren als ihre Brüder in Westeuropa. Das Gegenteil davon ist wahr.
…eine hundertmal größere Kampfeskraft
Das beweist aber, wie groß die schlummernde Energie des Proletariats überhaupt sein kann. Das beweist, daß in einer revolutionären Periode das Proletariat eine – ich sage es ohne jegliche Übertreibung, auf Grund der genauesten Daten der russischen Geschichte –, eine hundertmal größere Kampfeskraft entwickeln kann als zu gewöhnlichen, ruhigen Zeiten. Das beweist, daß die Menschheit bis zum Jahre 1905 noch nicht gewußt hat, wie enorm, wie großartig die Steigerung der Kräfte des Proletariats sein kann und sein wird, wenn es gilt, wirklich um große Ziele, wirklich revolutionär zu kämpfen! Die Geschichte der russischen Revolution zeigt uns, daß es eben die Avantgarde, die Elite der Lohnarbeiterschaft gewesen ist, die mit größter Zähigkeit und mit größtem Opfermut den Kampf führte. Je größer der Umfang der Fabriken, desto ausdauernder waren die Streiks, desto öfter die Fälle der Wiederholung der Streiks in einem und demselben Jahre. Je größer die Stadt, desto höher die Rolle des Proletariats im Kampfe. Drei große Städte, die die intelligenteste und zahlreichste Arbeiterschaft besitzen, nämlich Petersburg, Riga und Warschau, zeigen eine ungemein höhere Zahl der Streikenden im Verhältnis zur Gesamtzahl der Arbeiter als alle anderen Städte, geschweige das platte Land. (…)
Je höher die Wellen, desto rücksichtsloser die reaktionären Kräfte
Die Reaktion rüstete sich zum Kampfe gegen die Revolution mit um so größerer Energie und Rücksichtslosigkeit, je höher die Wellen der Bewegung gingen. Es bewährte sich in der russischen Revolution 1905 das, was im Jahre 1902 in seiner Schrift über die „Soziale Revolution“ Karl Kautsky geschrieben hat (er war damals noch – beiläufig gesagt – ein revolutionärer Marxist und kein Verteidiger der Sozialpatrioten und der Opportunisten, wie heute). Er schrieb nämlich: „… Die kommende Revolution … wird weniger einer plötzlichen Empörung gegen die Obrigkeit und mehr einem lang dauernden Bürgerkrieg gleichen…“ So ist es auch gekommen! So wird es auch ganz sicher in der kommenden europäischen Revolution sein! (…)
Wir dürfen uns nicht durch die jetzige Kirchhofruhe in Europa täuschen lassen. Europa ist schwanger mit der Revolution. Die furchtbaren Greuel des imperialistischen Krieges, die Schrecknisse der Teuerung erzeugen überall revolutionäre Stimmung, und die herrschenden Klassen, die Bourgeoisie, und ihre Vertrauensleute, die Regierungen, sie geraten immer mehr und mehr in eine Sackgasse, aus der sie Überhaupt ohne größte Erschütterungen keinen Ausweg finden können. Wie die Volkserhebung in Rußland im Jahre 1905 unter der Führung des Proletariats gegen die zaristische Regierung zum Zwecke der Eroberung einer demokratischen Republik entstand, so werden kommende Jahre eben im Zusammenhange mit diesem Raubkriege die Volkserhebungen in Europa unter der Führung des Proletariats, gegen die Macht des Finanzkapitals, gegen die Großbanken, gegen die Kapitalisten erstehen lassen, und diese Erschütterungen können nicht anders als durch Expropriation der Bourgeoisie, als durch den Sieg des Sozialismus zu Ende kommen.
Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben. Aber ich glaube mit großer Zuversicht die Hoffnung aussprechen zu dürfen, daß die Jugendlichen, die so ausgezeichnet in der sozialistischen Bewegung der Schweiz und der ganzen Welt arbeiten, daß sie das Glück haben werden, nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu siegen in der kommenden proletarischen Revolution.
Geschrieben
vor dem 9. (22-) Januar 1917
in deutscher Sprache.
Zum erstenmal veröffentlicht
am 22. Januar 1925
in der „Prawda“ Nr. 18.
Unterschrift: N. L e n i n.
Werke, Bd.23, S.244-262.
(Gekürzt und mit Zwischenüberschriften versehen, Hervorheb. von mir, N.G.)
P.S. Lenin war damals 46 Jahre alt. Er hielt diesen Vortrag am 9. Januar 1917 im Züricher Volkshaus in einer Versammlung der schweizerischen Arbeiterjugend in deutscher Sprache.
Siehe auch:
Wie kam es eigentlich zur Oktoberrevolution?
Frunse: Über Strategie und Taktik der Revolution