In seinem Buch „Jenseits des Ural“ schrieb Franz Köhler im Jahre 1979: „Das, was in der Sowjetunion an Gewaltigem vor sich geht, kann wohl nur der ganz ermessen, der auch die Vergangenheit dieses Landes kennt. Sowohl die fernere als auch die jüngere. Vergleiche zwischen dem, was etwa 1913 war, und dem, was heute ist, sind beeindruckend, doch oft sind sie auch unsinnig, weil sie leicht zu dem Schluß führen, das, was heute ist, sei das Ergebnis von nun mehr als 60 Jahren sozialistischen Aufbaus. Aber das stimmt ja nicht.“

Sowjetunion: Bei Schuschenskoje am oberen Jenissei entstand ein Kraftwerk, das damals zu den größten und modernsten der Welt gehörte
Als Franz Köhler dieses Buch schrieb, waren kaum 25 Jahre seit dem XX. Parteitag der KPdSU vergangen. Dort hatte Chrustschow als neuer Generalsekretär mit seinen stalinfeindlichen Attacken für unglaubliche Verwirrung gesorgt. Mit seiner widersprüchlichen Politik leitete er die Zerstörung der UdSSR ein. Noch spürte man damals kaum, welche verheerenden Folgen diese Abweichungen von marxistisch-leninistischen Grundpositionen für dieses riesige Land haben würden. Doch 1990 geschah das (nicht ganz) Unerwartete: Gorbatschow zerstörte die Partei und zerschlug das erste sozialistische Land der Welt…
Wie war das 1917 nach der Oktoberrevolution?
Nach der Revolution begann nicht der Aufbau, sondern der Bürgerkrieg, die Intervention. Sechs Jahre dauerte es, bis der Ferne Osten befreit war. 1929 erst, zwölf Jahre nach der Revolution, wurden die letzten Basmatschen-Banden aus Tadshikistan vertrieben. In den dreißiger Jahren, während der Kollektivierung der Landwirtschaft, fielen Hunderte Kommunisten unter den Kugeln von Kulaken.
Dann kam der faschistische Überfall…
Materielle Vernichtung ohnegleichen. Und noch schwerer wiegend: Nahezu eine ganze Generation mittlerer Führungskader, das Rückgrat der Partei und des Staates — in den 20er und 30er Jahren unter unsäglichen Mühen und Opfern ausgebildet —, fiel im Krieg oder ging an den Kriegsfolgen zugrunde.
Nach dem Sieg über den deutschen Faschismus
Zwar war 1948 die Industrieproduktion der Vorkriegszeit wieder erreicht, aber erst zehn Jahre nach dem Ende des Krieges normalisierten sich die Bedingungen für den friedlichen Aufbau — jedoch der Mangel an erfahrenen Kadern wirkte weiter. Noch 1958, über 40 Jahre nach dem Großen Oktober, produzierte die Sowjetunion erst 54 Millionen Tonnen Stahl. Aber schon 20 Jahre später waren es 160 Millionen. 40 Jahre brauchte die Sowjetunion, um auf 235 Milliarden kWh Elektroenergie zu kommen. Aber die folgenden 20 Jahre genügten, um 1100 Milliarden kWh zu erreichen. Setzt man das Nationaleinkommen von 1913 gleich 1, so stieg es in den 52 Jahren bis 1965 auf 32; in den letzten zehn Jahren aber von 32 auf 62. Und wenn wir sehen, was sich die Sowjetunion diesmal für den zehnten Fünfjahrplan vorgenommen hat, dann wird deutlich, daß der Zeitraum, den die Sowjetunion brauchte, um die ökonomischen Vorzüge der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu beweisen, eben nicht einfach ab 1917 gemessen werden kann, sondern erst von dem Zeitpunkt, als sie unter annähernd friedlichen Bedingungen arbeiten konnte.
Die Sowjetunion — von feindlichen Mächten umgeben
Jahrzehntelang war der Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung im ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat der Welt angesichts der feindlich-drohenden imperialistischen Umwelt und des schweren Erbes der aus dem Zarismus übernommenen unsäglichen Rückständigkeit verbunden mit dem Kampf ums nackte Überleben. Die Konzentration aller Kräfte auf die Schwerindustrie, die Mobilisierung aller gesellschaftlichen, politischen und moralischen Ressourcen zum Schutz des Staates waren eine Existenzfrage. Notgedrungen mußten solche Gebiete wie die Leichtindustrie, der Einzelhandel, das Dienstleistungswesen, die Gastronomie hinter den dringenden Forderungen des Tages zurückstehen. In diesen Zweigen wurde weniger investiert, sie erhielten oft nicht die besten Kader, mußten sich häufig mit Rohstoffen zweiter Qualität zufriedengeben, hinkten in der Arbeitsproduktivität hinterher und genossen folglich auch weniger gesellschaftliche Wertschätzung.
Wie ging es Anfang der 60er Jahre voran?
Erst in den letzten 10 bis 15 Jahren begannen diese Zweige aufzuholen, ohne daß freilich alle Serviererinnen schon wie Wiener Oberkellner arbeiten, das in Kwaß-Küchen gebraute Bier die herbbittere Vollmundigkeit des Pilsners erreicht und alle Werke der Leichtindustrie schon mit erster Qualität produzieren. Der Schlüssel zum Verständnis liegt im Begreifen des Tempos, der Dynamik und der Dimension dieses Prozesses, der Anfang der siebziger Jahre eine neue Qualität erreichte: Die ökonomischen Kräfte der Sowjetunion waren nun so gewachsen, daß die allgemeine Hebung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der Bevölkerung zur Hauptaufgabe erklärt werden konnte.
Die Größe dieser Veränderungen der letzten Jahre aber wird erst dann deutlich, wenn wir ihre wohltuenden Auswirkungen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen berücksichtigen. Zu den wichtigsten sozialen Wandlungen der sowjetischen Gesellschaft gehört die immer augenfälliger werdende Annäherung zwischen Arbeiterklasse, Bauernschaft und Intelligenz. Sie geht einher mit einem ständigen Erstarken der Gemeinsamkeiten der Nationen und Völkerschaften des Landes, wobei die nationalen Besonderheiten strikt beachtet und die sozialistischen Nationalkulturen allseitig gefördert werden. Dadurch entwickeln sich zwischen den Klassen und sozialen Gruppen, Nationen und Nationalitäten der Sowjetunion neue kommunistische Beziehungen der Freundschaft und Zusammenarbeit.
Was war das besondere an der Sowjetunion?
Schon 1928 hatte Maxim Gorki auf einer Festsitzung des Sowjets von Tbilissi das eigentliche Ziel sozialistischen und kommunistischen Strebens gezeigt: „Begreift, daß hier ein neuer Mensch entsteht. Begreift, Ihr selbst seid diese Menschen, die jene Atmosphäre schaffen, die Lebenswillen, Lebensglück und Freude an der Arbeit täglich neu gebiert . . . Vom Ararat bis nach Murmansk, vom Fernen Osten bis nach Leningrad, auf diesem Boden, in diesen ungeheuren Weiten ist jetzt ein neues Volk im Werden. Dieses neue Volk, diese gewaltige Kraft seid Ihr!“
Quelle:
Franz Köhler, Jenseits des Ural, VEB F.A.Brockhaus Verlag Leipzig, DDR 1979, S.2f.
Siehe auch:
Der Weg der Sowjetunion zum Sieg des Sozialismus
Die Schwierigkeiten der Sowjetunion
Pingback: Genosse Kaganowitsch erinnert sich an Stalin | Sascha's Welt