Was wird sein? …dreißig Jahre danach

Grotewohl„Wird die deutsche Arbeiterklasse die ihr gestellte geschichtliche Aufgabe zur Verwirklichung des Sozialismus lösen können und damit alle Werktätigen und schließlich das ganze Volk sozial, national und kulturell auf ein Niveau heben, das allen ein menschenwürdiges Dasein gewährleistet? Das ist die Frage, vor der wir stehen und auf die hier Antwort gegeben werden soll.“ [1] Anläßlich des 100. Jahrestages der verfehlten bürgerlichen Revolution 1848 und 30 Jahre nach der Novemberrevolution 1918, die bekanntlich in ihren Anfängen steckenblieb, analysierte Otto Grotewohl die geschichtlichen Ereignisse. Er zog dabei einige wichtige Lehren aus der Vergangenheit, die bis heute nichts an ihrer Gültigkeit verloren haben. Seine Schlußfolgerungen sind für uns heute um so wichtiger, als die Konterrevolution von 1989 gezeigt hat, daß die SED diesen politischen Herausforderungen nicht gewachsen war. Es lohnt sich also, dieses Buch von Otto Grotewohl erneut zu lesen. Hier einige Auszüge daraus:

Lehren aus der Geschichte ziehen

Die gründliche Erforschung der deutschen Novemberrevolution von 1918, ihrer Ursachen, ihrer Aufgaben und ihrer Auswirkungen ist für die deutsche Arbeiterklasse eine zwingende Notwendigkeit. Nicht nur aus geschichtlichem Interesse, sondern vor allem auch, weil sie von größter aktueller politischer Bedeutung ist und ihr ernste Lehren für den weiteren Kampf vermittelt. (S.9)

Vor welchen Aufgaben steht die Arbeiterklasse?

Die deutsche Arbeiterbewegung – und damit das gesamte deutsche Volk sind heute vor ähnliche Aufgaben gestellt wie im Jahre 1918. Ähnlich wie 1918 gilt es auch heute, in ganz Deutschland die fortschrittlichen Kräfte für die Erkenntnis und Durchführung der Aufgaben zu gewinnen. Es gilt die Kriegsverbrecher zu enteignen, die kapitalistischen Monopole zu beseitigen, die Betriebe der Großindustrie in die Hand des Volkes zu legen, die Junkerklasse durch die Aufteilung des Großgrundbesitzes zu entmachten und eine neue demokratische Verwaltung, Polizei, Justiz und Schule aufzubauen. Um diese großen Ziele zu verwirklichen, ist die deutsche Arbeiterklasse, ähnlich wie 1918, vor die unabweisbare Notwendigkeit gestellt, ein festes Bündnis mit der Bauernschaft, dem Mittelstand und der fortschrittlichen Intelligenz herzustellen. (S.9)

Auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus

Heute wie damals steht die Arbeiterklasse vor der Aufgabe, auf dem festen Boden des Marxismus die Einheit der Arbeiterbewegung zu verwirklichen. Heute wie damals steht die nationale Frage im Vordergrund: die Arbeiterklasse hat die Aufgabe, durch ihren entschlossenen Kampf gegen die imperialistischen Mächte im In- und Ausland das wirkliche Interesse der deutschen Nation zu wahren und einen erneuten nationalen Mißbrauch des Volkes durch den Monopolkapitalismus zu verhüten. Das Entscheidende aber ist, daß heute wie damals bei weiten Kreisen in unserem Volk die Richtigkeit, Wichtigkeit und die Notwendigkeit dieser Aufgaben noch nicht eingesehen wird. (S.9)

Ist der Marxismus „überholt“?

Die gründliche Erforschung der deutschen Novemberrevolution von 1918 ist auch deshalb notwendig, um die sozialistische Bewegung und die deutsche Arbeiterklasse vor großen Fehlern zu bewahren, die sich in der Vergangenheit verhängnisvoll ausgewirkt haben. Heute wie damals glauben nicht wenige Führer der Sozialdemokratie unter den Nachwirkungen früherer opportunistischer Irrungen, auf die marxistische Grundorientierung verzichten zu können, da diese angeblich „überholt“ sei. Sie versäumen und vernachlässigen das Studium des Marxismus, die unerläßliche, schöpferische Weiterentwicklung und Anwendung auf die besonderen Verhältnisse der Gegenwart. Das gilt sowohl für die Lehre vom Staat und vom Weg zum Sozialismus, wie auch für die Frage der Anwendung revolutionärer Kampfmethoden. (S.9f.)

Die opportunistische Haltung der Sozialdemokratie

Heute wie damals wird schließlich von führenden Vertretern der Sozialdemokratie die Bedeutung einer formalen Demokratie überschätzt und dabei übersehen, daß, solange die Klassenverhältnisse nicht geändert, die Machtverhältnisse in Staat und Gesellschaft, nicht gründlich umgestaltet sind, die Demokratie nur eine Tarnkappe für die alten reaktionären Mächte ist, die beiseitegeworfen wird, sobald Monopolkapitalisten und Junker die Zeit dafür reif halten. (S.10)

Subjektive Faktoren

Schließlich sei noch auf ein drittes Moment hingewiesen, das eine eingehende Betrachtung der deutschen Novemberrevolution von 1918 für uns heute so notwendig erscheinen läßt. Die bisherige Geschichtsbetrachtung über die revolutionären Ereignisse des Jahres 1918 zeichnet sich in ihrer übergroßen Mehrzahl in einer abfälligen und wegwerfenden Beurteilung der revolutionären Leistungen aus. (…) So gewichtig und verhängnisvoll die Entscheidungen waren, die im November 1918 gefällt wurden, so irrig und unfruchtbar wäre es, den subjektiven Faktoren jeden entscheidenden Einfluß auf die Situation, auf die Bewältigung der Probleme, auf den weiteren Verlauf abzusprechen. (…) Man muß feststellen, welche Ströme sie gespeist haben, aus welchen ökonomischen und sozialen Wurzeln sie ihre Kraft gesogen haben, aus welcher politischen und geistigen Atmosphäre sie erleuchtet und befruchtet wurden. (S.11f.)

Der satte Wohlstand der deutschen Arbeiteraristokratie

Diese Bestechung einer kleinen Schicht von Arbeitern erfolgte bald in plumpen, bald in höchst raffinierten, kaum erkennbaren, dann aber um so wirkungsvolleren Formen. Geeignete Objekte in der Arbeiterschaft erhielten als angeblich qualifiziertere Facharbeiter, als Aufseher, Vorarbeiter, Lagerverwalter, Kontrolleure u.ä. höhere Einkommen und günstigere Arbeitsbedingungen. Es ist erwiesen, daß die so Begünstigten in der Mehrzahl der Fälle sich allmählich in ihrer Lebenshaltung und Denkweise den bürgerlichen anpaßten, sich mehr und mehr von der proletarischen Klassengrundlage entfernten, die Sorge um die Erhaltung und Verbesserung ihrer Posten, um die Versorgung ihrer Kinder höher schätzten als die Solidarität mit den Massen, als den Kampf um die soziale Befreiung der gesamten Arbeiterklasse. Die Aussicht opfervoller Kämpfe flößte ihnen vielmehr Furcht und Abneigung gegen revolutionäre Kampfmethoden ein. (S.26)

Warum gibt es in Deutschland so wenig Widerstand?

Diese Schichten bildeten darum einen günstigen Nährboden für den Opportunismus, für alle Abirrungen von der marxistischen Theorie und Praxis, für versöhnlerische Tendenzen und falsche, undialektische Beurteilungen der Entwicklung des Kapitalismus im Zeitalter des Imperialismus. Das deutsche Monopolkapital sparte darum nicht mit Mitteln, um durch die Züchtung einer solchen Arbeiteraristokratie die Front der Arbeiterschaft zu durchbrechen und in ihre Reihen den Samen der Zwietracht untereinander und des faulen Klassenfriedens mit den Kapitalisten zu säen. (S.27f.)

In seinem Brief an die amerikanischen und europäischen Arbeiter sagte Lenin [2]:
brief1

Die halbherzigen innerparteilichen Auseinandersetzungen

Der tiefe Riß und Zwiespalt in der Partei wird zwar richtig erkannt, aber nichts Entscheidendes zu seiner Überwindung getan. August Bebel, der unentwegte Vorkämpfer und Verteidiger der Einheit, sah, daß der Revisionismus die Einheit untergrub, daß seine Duldung sie zerstörte. Im Zorn darüber wetterte er auf dem Dresdner Parteitag 1903 gegen die revisionistischen Spalter und gegen die, welche die tiefe Kluft nicht sahen. Wie weitgehend die Revisionisten sich von der Grundhaltung der Partei entfernt hatten und wie scharf die Auseinandersetzungen innerhalb der Partei bereits waren, geht aus den bekannten Worten August Bebels hervor [3]:
brief2
Den Ausweg aber sah Bebel nicht in dem Ausschluß der von der klassenmäßigen Orientierung Abgeirrten und in der etwa daraus sich ergebeneden Trennung, sondern in einer gründlichen Aussprache. (S.35)

Und noch einmal zu Jugoslawien…

Sehr ernste Lehren vermittelt uns z.B. gegenwärtig (1948 !) das Schicksal der Kommunistischen Partei Jugoslawiens. In Jugoslawien begriff man nicht mehr die führende Rolle der Arbeiterpartei im Bündnis des arbeitenden Volkes von Stadt und Land. Die Partei ging selbst in einen halb illegalen Zustand, unterdrückte und beseitigte die innerparteiliche Demokratie, um sie durch ein despotisches Regiment zu ersetzen. Wir müssen aus Jugoslawien lernen, daß die Partei niemals in dem Bereich der Blockpolitik oder der Volksfrontpolitik untergehen kann und darf. Durch eine Reihe scheinradikaler Maßnahmen überstürzte man in Jugoslawien die Planmäßigkeit des sozialistischen Aufbaus und diskreditierte durch ein abenteuerliches Spiel die Entwicklung zum Sozialismus. Die Abkehr von der gemeinsamen sozialistischen Front der Volksdemokratien bedeutete eine Abkehr von der Sowjetunion und den Volksdemokratien. Wenn die jugoslawischen kommunistischen Genossen nicht begreifen, was diese Loslösungsbestrebungen bedeuten, wird Jugoslawien in die Arme des Imperialismus getrieben werden, seine Unabhängigkeit verlieren und zu einem rein bürgerlichen Staat degradiert werden. So kann eine Arbeiterpartei, die Großes im Befreiungskampf ihrer Nation geleistet hat, alles Errungene verspielen, wenn sie die Grundthese einer modernen marxistischen Partei aus den Augen verliert, nämlich die Grundthese, daß die marxistische Arbeiterpartei die Führerin ihrer Klasse und ihres Volkes zu sein hat. Wachsamkeit und Klarheit im marxistischen Denken und Handeln sind die Garanten für den erfolgreichen Kampf der geeinten Kraft der Arbeiterbewegung. (S.144f.)

Die wichtigste Lehre aus der Geschichte

Die Erfahrungen der Novemberrevolution 1918 und der Weimarer Republik lehren, daß die Arbeiterklasse nicht siegen kann ohne eine Partei, die es versteht, die Klasse und die Massen für den revolutionären Kampf zu mobilisieren, zu organisieren und in diesem Kampfe zum Siege zu führen. Es muß eine Partei sein, in der die besten Elemente der Arbeiterklasse vereinigt sind, die auf dem Boden der revolutionären Theorie des Marxismus-Leninismus steht und in der eine auf Überzeugung beruhende straffe Disziplin aller Mitglieder besteht. Es muß eine Partei sein, die auf dem Prinzip des demokratischen Zentralismus aufgebaut ist; in der durch Entfaltung der Kritik und Selbstkritik alle feindlichen und schädlichen Elemente ausgemerzt werden, eine Partei, die sich durch ihr Vorbild die Sympathien der breiten Massen des werktätigen Volkes erwirbt, und die es versteht, die Mehrheit der Arbeiterklasse und aller Werktätigen zu erobern. Das Fehlen einer solchen Partei im Jahre 1918 war die entscheidende Ursache für die Niederlage der revolutionären Arbeiterschaft. (S.167)

Quelle:
[1] Otto Grotewohl, Dreißig Jahre später – Die Novemberrevolution und die Lehren der Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Dietz Verlag, Berlin, 1948, S.6
(Die Seitenangaben beziehen sich auf das genannte Buch.)
[2] W.I.Lenin, Sämtliche Werke, Bd.23, S.644.
[3] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Dresden, 1903, S.309.

DOWNLOAD: Otto Grotewohl, Dreißig Jahre danach

Siehe auch:
Walter Ulbricht (Autorenkoll.), Die Novemberrevolution

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2 Antworten zu Was wird sein? …dreißig Jahre danach

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