Erik Neutsch: Der neue Mensch

BitterfeldDas gab es nur in der DDR. Oder besser gesagt: in einem sozialistischen Land. Die Arbeiter gingen anders miteinander um als im Kapitalismus. Und man ging anders mit ihnen um, auf Arbeiterart, denn die Arbeiterklasse hatte die Macht im Staat. Erik Neutsch, selber Arbeiter und nun Schriftsteller, schrieb Geschichten auf, die er selbst erlebte. Diese hier ist die Geschichte von einem ertappten Dieb, der in seinem Betrieb Kupferrohre stahl…

Einer aus Mohrings Kolonne stand auf, ein Alter mit Höckerrücken und hohlen Wangen. Er war Reparaturschlosser wie der Angeklagte. Er hustete und umklammerte mit beiden Händen die Stuhllehne vor sich. Wir alle fühlten, daß jetzt die Entscheidung heranreifte. Auch Ulli mochte es ahnen. Als er die heisere Stimme des Schlossers vernahm, schaute er ihm voll ins Gesicht, nach Trost in jedem Worte hungernd. „Weg mit ihm! ‚raus aus dem Betrieb mit ihm. Diebe können wir nicht gebrauchen. Ich bin vierzig Jahre im Chlor. Wenn einer geklaut hat, wurde er immer ‚rausgeschmissen.“ Mehr sagte der Alte nicht. Alles wartete, daß er sein Urteil begründete. Aber er ließ sich wieder auf seinen Platz fallen. Er hatte genügend begründet: Er kannte es nicht anders, als daß ein Dieb verdammt wurde. Damit basta. Mohring stöhnte gequält. Er hatte umsonst gehofft.

ArbeiterWalter Wildgrube nahm die Pfeife aus dem Mund und steckte sie in die Hosentasche. „Ich will mal was sagen“, erklärte er und rekelte sich hoch. „Ich habe Mohring erwischt, wie er das Kupfer gestohlen hat. Glaubt mir, ich wollte ihn niederschlagen. Ich bin keiner, der den …“, er stockte, er besann sich, „… na ja, der die Sache beschönigen will.“ Der Anlagefahrer drehte sich um. Er durchmaß die Gesichter der Versammelten. Er wartete, ob ihm jemand widerspräche. Niemand bezweifelte seine Unvoreingenommenheit. Wir alle lauschten ihm. Wir waren gespannt, wie er entscheiden würde. Er hatte den Diebstahl entdeckt, er hatte den Dieb angezeigt. Er verfügte aber auch über die Erfahrung eines harten Lebens. Manch einem von den Arbeitern hatte er bereits kluge Ratschläge erteilt. Sie stimmten ihm kopfnickend zu.

Walter Wildgrube wandte sich wieder an das Präsidium und fuhr fort:
„’rausschmeißen, aus dem Betrieb verbannen, das ist leicht gesagt. Noch leichter getan, vielleicht. Dann sind wir alle Sorgen los. Sperrt ihn gar noch ins Gefängnis. Für Diebe ist die Polizei zuständig, was?“ Durch die Reihen wogte ein Gemurmel. Wildgrube scheute nicht, brutal zu schlußfolgern. Er faßte den höckerrückigen Alten aus Mohrings Kolonne ins Auge. „Vierzig Jahre bist du im Chlor. Du hast es nicht anders gekannt, sagst du. Mein Lieber, mehr als die Hälfte dieser Zeit zählt nicht. Nicht, wenn du über einen Arbeiter richten willst. Denn das war eine Zeit, in der ein Arbeiter nichts galt. Wer da fiel, wurde gestoßen und getreten, damit er noch tiefer fiel.“

Der Anlagefahrer hielt inne. Er sprach gedehnt, bedächtig. Jeden Satz legte er erst auf der Zunge zurecht. „Wenn du ein Kind hast, das Dummheiten macht. Das geklaut hat, sagen wir. Wirfst du es gleich auf die Straße? Wenn du es tust, bist du ein schlechterer Vater, als dein Kind schlecht ist. Denke doch wenigstens daran, daß dein Kind auch gut sein kann. Daß es dir immer die Haussocken gewärmt hat…“ Einige lachten. Der Alte rief: „Das ist was anderes.“ „Nichts ist anders“, sagte Wildgrube, „Mohring gehört zu unserer Familie. Er gehört zur Brigade im Chlorbetrieb. Also sind wir alle für ihn verantwortlich. Du und ich, wir alle. Vielleicht haben auch wir ein bißchen schuld. Daß es mit ihm so weit gekommen ist, meine ich…“ „Oho!“ wurde geschrieen. „Er ist wohl ein Engel?“ – „Wir haben nicht gemaust.“

Wildgrube hob seine Stimme. „Legt endlich eure kleinbürgerliche Seele ab! Immer zu den Leuten hübsch verlogen sein! Bloß keine eigenen Fehler zugeben! Immer die Wohlanständigkeit wahren! Wie klein ist das, wie verächtlich. Nicht der ist anständig, der keinen Makel hat. Fehler hat jeder Mensch. Wenn er sie beseitigt, dann ist er anständig.“ Walter Wildgrube war ärgerlich geworden. Wütend hatte er seine Moral verkündet. Niemand wagte, ihn zu unterbrechen. Wegen seines heiligen Zorns nicht? Deshalb auch, möglicherweise. Vor allem aber wegen seiner Moral nicht. Sie war schlicht, ehrlich, einleuchtend. Sie war wahr. „Ein jeder von uns kennt Mohring. Der Fußball hat ihn behext. Seine Frau kriegt ein Kind. Er war besessen auf einen Fernsehkasten. Nirgends erhielt er Antennen. Das alles wußten wir. Ulli hat es uns erzählt. Er hat es uns vorgejammert. Nehmt mich zum Beispiel. Mich hat er nach dem Kupfer im Keller gefragt. Aber ich wurde deswegen nicht hellhörig. Wie eine Brotmaschine war ich zu meinem Ei, aber nicht wie eine Glucke. Und dann wollte ich ihn in die Fresse schlagen, an der Planke, als ich ihn schnappte. Wißt ihr, warum? Weniger aus Wut über ihn. Aus Wut über mich. Weil ich ihn nicht gehindert habe …“

Wieder sann Wildgrube nach. Die Menschen im Saal harrten geduldig. Wir verstanden Mohring plötzlich besser. „Und was die Haussocken betrifft… Mohring hat geklaut. Das ist die eine Seite. Mohring hat die Seifert-Methode eingeführt. Das ist die andere Seite. Er hat die Rohre genommen, also den Betrieb bestohlen. Er hat die Verlustzeiten aufgedeckt, also den Betrieb beschenkt. Er ist ein Arbeiter, der hier genommen, was er dort gegeben. Das sind die beiden Seiten in einem. Und das wollte ich sagen.“ Walter Wildgrube setzte sich. Seine Rede hatte ihn erschöpft. Er zog die Pfeife aus der Hosentasche und klopfte die Asche in die hohle Hand. Aus einem schmutzigen Lederbeutel fingerte er Tabak und stopfte den Pfeifenkopf. Doch noch ehe er ein Streichholz anzünden konnte, fragte ihn der Vorsitzende: „Was schlägst du denn nun vor?“ Wildgrube erhob sich noch einmal. „Das Wichtigste vergißt man oft. Wir schmeißen ihn nicht ‚raus. Meinetwegen gebt ihm einen Verweis. Aber er bleibt in unserer Brigade. Er soll uns zeigen, daß er kein Dieb ist. Wir werden ihm dabei helfen.“

Ulli Mohring war nicht wiederzuerkennen. Die aufgespeicherte Erregung der letzten Tage in ihm machte sich Luft. In die Stille brach sein Schluchzen. Er heulte und lachte. Er biß sich auf die Lippen. Er rang mit seinen Gefühlen. Seine Scham balgte sich mit seiner Freude. Aber weder die eine noch die andere vermochte er zurückzudrängen. „Ich werd’s beweisen …“, stammelte er, „ich beweis es euch… Ihr sollt sehen … Ich bin kein Dieb… Beschimpft mich, ja … Aber vertraut mir doch…“ Über sein rotes Gesicht rollten die Tränen wie Regentropfen über eine reife Glaskirsche.

Die Konfliktkommission zog sich zur Beratung zurück. Als sie wiederkam, verkündete der Vorsitzende das Urteil. Es entsprach Wildgrubes Vorschlag.

Quelle:
Erik Neutsch: Bitterfelder Geschichten, „Der Dieb“, Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale), 1961, S.34-38. Illustration: Dr.Hanns Georgi.

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