Im Jahre 1966 erschien im Union-Verlag der DDR, einem christlichen Verlag, ein sehr seltsames Buch eines westdeutschen Philosophen. Darin beschreibt dieser, wie er sich den „Wettlauf zum Jahre 2000“ [1] vorstellt. Und ein DDR-Ökonomie-Professor fügte dem ein kommentierendes Nachwort hinzu. Dieses Buch war einer der Einbrüche der reaktionären bürgerlichen Ideologie in die immer noch fragile Welt des Sozialismus. Wie darauf allerdings der damals noch recht junge Professor reagierte, zeugt nicht nur von mangelnder Erfahrung im Umgang mit dem Klassenfeind, sondern auch von einer Problemblindheit, um nicht zu sagen Naivität im Detail, die späterhin vielen revisionistischen Vorstößen den Weg ebnete.
Die Vorgeschichte von 1953 bis 1966
Nun muß man allerdings wissen, daß in der Sowjetunion 1956 auf ideologischem Gebiet gewissermaßen ein „kalter Putsch“ stattgefunden hatte. Wie schon so oft erwähnt, hatte nach der heimtückischen Ermordung Stalins 1953 sein Nachfolger Chruschtschow die Zügel in die Hand genommen und ganz gezielt daraufhin gearbeitet, alles das zu zerstören, was bis dahin unter Stalin seit dem Tode Lenins in der Sowjetunion aufgebaut worden war. Hier ging es nicht nur um ein paar Ansichtssachen wie etwa den so viel gescholtenen Personenkult oder um diverse Meinungsverschiedenheiten in dieser oder jener ökonomischen Angelegenheit, sondern um ganz prinzipielle Dinge.
Die Öffnung der Tür
Wie wir sagen: Es begann der moderne Revisionismus der Ideen des Marxismus-Leninismus. Doch nicht nur schlechthin der Ideen, sondern eben auch der bisher erfolgreich verwirklichten Praxis. Daß der bisherige Weg des sozialistischen Aufbaus bis zum Sieg über den deutschen Faschismus durchaus ein steiniger Weg war, beweisen die vielen Kämpfe und Auseinandersetzungen, mit denen sich das junge sozialistische Rußland und später die Sowjetunion konfrontiert sah. Daß dies nur unter hohen Verlusten geschah, ist tragisch, doch der Sieg des Sozialismus erwies sich auch nach 1945 als äußerst dauerhaft. Es hatte eine neue Zeit begonnen, ein menschenwürdiges Leben für Millionen und Abermillionen bisher unterdrückter und ausgebeuteter Volksmassen. Die Kämpfe hörten indessen niemals auf. Ganz verständlich, daß die größtenteils überwundene Ausbeuterklasse (Bourgeoisie) mit allen nur möglichen (und eben auch unlauteren) Mitteln versuchte zu retten, was noch zu retten war, zurückzuholen, was bereits als verloren galt und wieder einzudringen in die Welt des Sozialismus, um dessen neuentstandene sozialökonomische Ordnung von innen heraus zu zerstören.
Die Achillesferse des Sozialismus
Dabei spielten philosophische Fragen schon immer eine ganz zentrale Rolle. Auch den Gegnern des Sozialismus war bekannt, daß die Ideologie – also dieses „System der gesellschaftlichen (d.h. politischen, ökonomischen, rechtlichen, pädagogischen, moralischen, philosophischen u.a.) Anschauungen, die bestimmte Klasseninteressen zum Ausdruck bringen“ [2] – die Voraussetzung dafür ist, um menschlichem Handeln Sinn und Richtung zu verleihen. Es ist klar, und jeder Wissenschaftler wird das bestätigen, daß man umfangreiches Wissen und fundierte Kenntnisse benötigt, um von der Theorie zur Praxis zu gelangen. Da machen die Gesellschaftswissenschaften keine Ausnahme. Kommt hinzu, daß Veränderungen in der menschlichen Gesellschaft, oder gar die Aufhebung vorhandener ökonomischer Strukturen, sich nur dann realisieren lassen, wenn sie schließlich von der Masse des Volkes getragen werden. Denn – wie Karl Marx schon sagte: „…die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“ [3]
Doch genug der Vorrede. Kommen wir zur Sache. Der westliche Professor Fritz Baade schreibt in seinem Buch:
„Das russische Volk ist durch mehrere Jahrzehnte der kommunistischen Revolution zu einem Volk geformt worden, das man mit den Methoden des Kommunismus regieren kann. Leicht war dieser Prozeß auch in Rußland nicht. Das Ergebnis ist mit viel Blut und Tränen erkauft worden, Blutopfern insbesondere der alten bolschewistischen Führerschicht, die Stalin fast völlig ausgerottet hat. Der russische Mensch ist dadurch in einem erheblichen Maße konformistisch geworden. Er ist es nicht unbegrenzt. Im russischen Volke sind starke Freiheitskräfte vorhanden, und nach dem Tode Stalins hat das Regime vieles getan, um diesem Freiheitsbedürfnis Rechnung zu tragen. Aber immerhin kann, wenn das Regime das Volk einigermaßen geschickt behandelt, das Maß erhöhter Freiheit für den einzelnen so gestaltet werden, daß ein Sozialismus ohne jedes Privateigentum an Produktionsmitteln dauernd und mit gutem Nutzeffekt funktioniert.“ [4]
Und was tut der DDR-Professor Karl Heinz Domdey, um dieser boshaften und verleumderischen Behauptung entgegenzutreten, oder wenigstens etwas zu erwidern? Nichts, rein gar nichts! Der Professor schweigt. Er konstatiert lediglich einige Meinungsverschiedenheiten. Ja, er assistiert sogar noch in gewisser Weise, indem er aufführt, wie friedfertig und zukunftsträchtig die Vorschläge einer neuen „Ostpolitik“ doch seien. Und er schreibt:
„Zahlreiche Modelle der Beziehungen friedlicher Koexistenz sind also je nach den Produktionsverhältnissen, nach dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte, nach den konkreten ökonomischen Interessen und nach der Außenpolitik der nichtsozialistischen Länder in einem bestimmten Zeitraum möglich. Ich denke an die Beziehungen zwischen sozialistischen Industriestaaten und kapitalistischen Industrieländern mit aggressiver oder bündnisfreier Außenpolitik, an die Beziehung zu Entwicklungsländern, die den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg eingeschlagen haben und eine antiimperialistische Außenpolitik verfolgen, sowie an solche, die den kapitalistischen Entwicklungsweg beschreiten und eine antiimperialistische oder proimperialistische. Außenpolitik verfolgen.“ [5]
Was soll man dazu sagen, wenn ein DDR-Ökonom die Zusammenarbeit sozialistischer Länder mit aggressiven kapitalistischen Industrieländern nicht nur für möglich hält, sondern geradewegs empfiehlt? Mit solchen Vorschlägen oder Modellen war es nicht getan, das hatten wir gesehen. Auch die Frage nach den Gründen der Aggressivität und der militärischen Hochrüstung durch die imperialistischen Staaten Westeuropas läßt der Autor in seinem Nachwort völlig unerwähnt.
Verbreitung bürgerlicher Ideologien
Im Klappentext des Buches wird zu allem Überdruß auch noch für Baades reaktionäre Theorien geworben. Dort schreibt nämlich der Verlag, daß „Professor Baades überaus erfolgreiches Buch“ für die geistige Auseinandersetzung um solche Probleme „außerordentlich wertvoll (sei), weil in ihm nicht nur – in lebendigem, gar nicht akademischem Stil – viele, sonst kaum zugängliche Materialien ausgebreitet und aus der Sicht eines westdeutschen Gelehrten Aussagen über die Perspektive der Menschheit gemacht werden, deren christlich-humanistisches Ethos unverkennbar ist.“ [6]
Dieses Buch ist ein Beispiel dafür, wie wenig sich einige DDR-Ökonomen nach 1956 in der DDR mit den immer schärfer hervortretenden Gegensätzen zwischen Imperialismus und Sozialismus befaßt haben, wie man trotz der immer bedrohlicher werdenden Aggressivität des Imperialismus nach Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen gesucht hat, wie man an der Richtigkeit des sozialistischen Entwicklungsweges zu zweifeln begann, anstatt den unter Stalin eingeschlagenen Weg bis zur völligen Beseitigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die so viel Leid über die Welt gebracht hatten, unbeirrt fortzusetzen.
Quellen und Zitate:
[1] Fritz Baade: Der Wettlauf zum Jahre 2000. Union Verlag Berlin (DDR), 1966.
[2] Frank Fiedler/Günter Gurst (Hrsg.): Jugendlexikon Philosophie, VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1987, S.88.
[3] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW, Bd.1, S.385.
[4] Fritz Baade, a.a.O. S. 320f.
[5] Karl Heinz Domdey: Gedanken zu den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Weltsystemen. In: Fritz Baade, a.a.O. S.367.
[6] Klappentext zum Buch von Fritz Baade.
Die Reaktion des DDR-Ökonomen Domdey geht zweifellos auf Chruschtschow zurück, der dem Imperialismus ja Friedensfähigkeit zugeschrieben hatte. Wobei der Unionsverlag meines Wissens ja nicht nur von der DDR subventioniert war, sondern auch von der BRD. Da hat der Herr Domdey sich vermutlich gedacht, man könne doch dem Unionsverlag nicht das Geschäft mit dem Westen verbauen, und schrieb da irgendwas „Verbindliches“. Und was die ehemals DDR-Ökonomen heute so zusammenschreiben, da fragt man sich, warum die DDR es überhaupt geschafft hatte, 40 Jahre zu existieren: Planwirtschaft ein Irrweg, Kommandowirtschaft usw. Kann man alles u. a. bei Sahra Wagenknecht nachlesen, die sich deshalb auf Erhards „soziale Marktwirtschaft“ spezialisiert hat. Die Reaktion dieses Herrn Domdey zeugt aber davon, dass die Partei mit den Menschen nicht oder nicht ausreichend gearbeitet hatte, sondern die ideologische Bildung der Mitglieder und der Parteilosen dem Selbstlauf überlassen hatte. Hätte sie es getan, hätte sie sich höchstwahrscheinlich in Widerspruch zur Sowjetunion begeben müssen, um solcherart revisionistische Reaktionen zu vermeiden. War schon ein schmaler Grat, den Walter Ulbricht da gehen musste.