Heinz Kahlau: Der Selbstmordversuch (1946)

1
Als ich sommers sechsundvierzig,
blaß und böse, ausgehungert,
mittags durch die Wälder strich,
um aus ausgebrannten Panzerwagen,
was noch brauchbar schien, herauszuholen –
zwischen Schützenlöchern und Soldatenresten -,
trug ich immer eine Walter sechsundsechzig,
blank geölt und durchgeladen,
in der rechten Seitentasche
meiner abgewetzten Jungvolkhose.
Ich war damals fünfzehn Jahre,
hatte in der Preußenschule,
zwischen Luftalarm und Winterhilfe,
schnell gelernt: Die Russen sind Barbaren.
Also haßte ich die Russen,
die mich hinter Potsdam darum brachten,
meine allzu dünnen Kinderglieder
für den lieben Führer wegzuschmeißen.
So lief ich herum als junger Wehrwolf –
wovon keiner – außer mir – was wußte,
auf der Suche nach den Heldentaten,
die das Vaterland vom Feinde retten.
Deshalb hatte ich mir vorgenommen,
triffst du einmal einen dieser Russen
ganz allein auf deinen Sommerwegen,
legst du ihn einfach, ohne fackeln, um.

2
Eines Tages fand ich einen Stiefel,
und ich suchte in dem Schützengraben,
auf den Fersen hockend, nach dem zweiten,
da sprach mich von oben einer an.
Als ich hochfuhr, hörte ich Gelächter.
Oben stand, am Rande meiner Grube,
ein sehr junger russischer Soldat.
Der stand da, kaum älter als ich selber,
Beine breit, gesund und selbst erschrocken,
weil er mich da unten hocken sah.
Er trug keine Waffe, doch die Hände
staken tief in seinen Hosentaschen,
und ich ahnte nicht, warum er lachte.
lachend zog er aus der rechten Tasche,
während ich geduckt von unten starrte,
seine Hand, ganz langsam, beinah zögernd,
und dann gab er mir drei Rollen Drops.

3
Weiß vor Schreck, hab ich das Zeug gegriffen,
stopfte es in meine Hosentasche,
fühlte dabei deutlich die Pistole;
doch da hielt er, breit und fröhlich grinsend,
mir die leere Hand in meine Grube.
Ich griff zu. Er zog mich rasch nach oben,
klopfte mir ein paarmal auf die Schulter,
sah mir spöttisch in die bösen Augen,
drehte sich dann wortlos um und ging.
Ich stand da und fühlte nach den Dropsen,
dabei faßte ich an die Pistole,
und ich sah nur seinen breiten Rücken,
als er, beide Hände in den Taschen,
ohne sich noch einmal umzublicken,
langsam durch den Wald von dannen ging.
Mühsam nahm ich meine Hand nach oben
und besah mir staunend sein Geschenk.

4
Später, als wir längst schon Freunde waren
und ich ihn im Schilderhaus besuchte,
fragte ich, wir sahen in das Dunkel,
spielten mit der Glut der Zigaretten,
warum er mir Drops gegeben hat.
Lange schwieg er. Danach sprach er lange.
Ich bin her vom unteren Dnepr,
einem kleinen Dorf in der Ukraine,
das es seit dem Kriege nicht mehr gibt.
Früher gab es dort sogar ein Schwimmbad,
das wir Komsomolzen selber bauten,
und ein feines Fußballstadion.
Fische haben wir in unserm Dnepr,
länger als mein Arm und noch viel länger,
mancher fing sie mit der bloßen Hand.
Und die Birken, nicht so grau wie diese,
die sind hier im Straßenstaub verkümmert –
Birkenwälder, richtig große Wälder,
ihre Stämme sind so weiß wie Schnee.
Einmal bin ich noch im Urlaub dagewesen,
und ich ging mit Kolja durch die Wälder,
Kolja, der bei Frankfurt/Oder fiel.
Die Studenten hatten mich so oft gehänselt,
wenn ich laut von unsern Wäldern schwärmte.
Kolja, der wie alle andern lachte,
wenn ich meine Birkenwälder anpries,
Kolja, der verstand mich nachher gut.
Aber damals ist schon Krieg gewesen,
als wir in den Birkenwäldern lagen
und in Heines „Wintermärchen“ lasen,
denn wir brauchten es für unsre Prüfung.
Leider kam die Prüfung sehr viel früher,
und wir kriegten nicht so gute Noten.
Keiner hatte richtig Lust zum Lernen,
denn wir wollten alle an die Front.
Meine Mutter hatte mir geschrieben,
daß sie eine Jacke stricken wollte
und ich sollte ihr die Maße schicken –
aber wie das ist, ich hab’s vergessen.
Auch ging damals schon die Post sehr schlecht.
Als ich schon die ersten Schlachten kannte,
da hat meine Mutter erst erfahren,
daß ich längst nicht mehr in Moskau war.
Krieg und Lernen paßt so schlecht zusammen,
aber so war’s nicht – wir lernten weiter,
Kolja, der bestand darauf, sogar zum Angriff
schleppte er die deutschen Bücher mit.
Kaum daß wir mal eine Pause hatten,
las er mir aus Schillers Versen vor.
Manchmal war das nicht so leicht zu machen,
du verstehst, das Deutsch war eine Sprache,
die für viele Ohren böse klang.
Nun, wir setzten uns ein wenig abseits,
sprachen leise, und man wußte schließlich,
daß wir beide gute Kämpfer waren.

5
Eines Morgens fragte mich der Kolja,
als wir ein paar Tage Ruhe hatten,
ob ich zu den Partisanen möchte.
Klar, wir gingen beide, nach drei Tagen
schlugen wir uns durch die deutschen Linien
in die heimatlichen Birkenwälder,
weil sie dort ein paar Genossen brauchten,
die die deutsche Sprache sprechen konnten.
Wie’s das Leben will, in meinem Dorfe,
wo die Mutter und die Schwester lebten,
hatten Deutsche einen Stab errichtet.
Das erfuhr ich noch am gleichen Tage,
als wir zu den Partisanen stießen.
Aber nicht erfuhr ich, daß der Angriff
auf den Stab schon längst beschlossen war.
Ein Befehl kam, ich ging los mit Kolja,
um genau die Lage zu erkunden.
Mit uns ging noch unser Kommissar.
Glaube mir, mir war nicht leicht zumute,
denn ich wußte doch, daß meine Lieben
noch im Dorf sein konnten, und ich wußte
nicht einmal, ob sie am Leben waren.
Früh am Morgen schlichen wir uns näher,
schwammen durch den Fluß und krochen weiter,
bis wir auf dem Osterhügel waren,
wo das Haus des alten Popen stand.
Dort war alles nur noch Schutt und Asche.
Aber wenn man auf die große Birke,
die am Brunnen vor dem Hause stand, hinaufstieg,
konnte man ins Dorf hinunter sehn.
Auf der Birke zählte ich die Posten,
die Geschütze und die Panzerwagen,
sah genau, wo ihre Deckung schwach war
und wie man ins Dorf gelangen konnte.
Ich war schon dabei, hinabzuklettern,
da sah ich durch Zufall auf das Schwimmbad,
das im Schatten unsrer Schule lag.
Rings ums Becken Deutsche mit Gewehren,
und am Sprungturm standen Offiziere.
Ein paar Schüsse. Durch das Fernglas sah ich,
daß im Wasser Menschen schwammen.
Die Faschisten hatten in das große Becken,
das man bis zum Grund durchschauen konnte,
junge, nackte Fraun hineingestoßen,
und sie schossen, wenn sich eine
an dem Beckenrand zu halten suchte.
Ich schrie auf und bin gefallen.
Die Genossen führten mich wie einen Blöden
von der Birke weg und bis ans Ufer.
Erst als wir den Fluß durchschwommen hatten,
fand ich meine Stimme wieder.
Kolja mußte mich gewaltsam niederschlagen,
denn ich schrie und hätte uns verraten.

6
Mit dem Dunkel kam der Angriff,
wie der war, kannst du dir denken,
unser Haß war wie die Flammen.
Viele sind uns nicht entkommen.
Was von unserm Dorf noch lebte,
ging mit uns. Doch meine Mutter
hing im Garten. Meine Schwester
war die eine der acht Toten,
die wir aus dem Wasser fischten.
Eine Stunde später schossen
sie das Dorf zum Trümmerhaufen.
Dreiundvierzig von sechshundert
lebten noch aus meinem Dorfe.
Einer davon bin ich selber.
Ich kann heute noch nicht sagen,
was ich dachte, was ich fühlte
in den Wochen, die dann kamen.
Ja, ich schlief noch, aß und lebte.
Nicht ein Wort der deutschen Sprache
kam mehr über meine Lippen.
Kolja sprach kein deutsches Wort mehr
bis zum Tode.

7
In mir war nach diesem Angriff
jede Menschlichkeit gestorben.
Nein, ich dachte nicht an Selbstmord.
Ich muß leben, um zu töten,
war mein einziger Gedanke.
Und ich tat es. Wo ein Deutscher
mir vor das Gewehr kam, schoß ich.
Wo ich deutsche Worte hörte,
raubte mir der Haß die Sinne.
Zweimal haben die Genossen
mich entwaffnet. Einmal wollten
sie mich richten – immer wieder
gaben sie sich alle Mühe, mir zu helfen.
Dann kam Lemberg. Nach dem Angriff
kämmten wir die Straßenzüge.
Ein Soldat, von dem ich wußte,
daß ihm die Barbaren alles,
was er liebte, niedermachten,
seine Frau und beide Kinder,
war mit mir in einer Gruppe.
Aus dem Hofe eines Hauses
hatten sie auf uns geschossen.
Wir durchsuchten alles gründlich.
Ich durchstöberte den Keller,
als ein Schuß fiel. Ich lief eilig
in die Richtung. In der Küche einer Wohnung
schrie ein Kind und zerrte weinend
an den Haaren seiner Mutter,
die lag sterbend auf den Fliesen.
Der Genosse stand daneben,
und er lachte, wie von Sinnen.
Dann hob er den Lauf und legte
auf das Kind an. Ich entriß ihm
das Gewehr und schlug ihn nieder.
Da traf mich ein Schuß von hinten.

8
Ich kam zu mir, als der Arzt noch
an der Ausschußwunde nähte.
lch war diesem Mann nicht dankbar,
daß er mich nicht sterben ließ.
Wochenlang in Fieberträumen
und in meinen wachen Stunden
sah ich nur die kleine Küche
mit der Frau, die sterbend da lag,
und dem Kind, das an ihr zerrte.
Nein, ich wollte nicht mehr leben.
Der Gedanke, daß wir selber
durch die Grausamkeit der Feinde
grausam wie die Feinde wurden,
hat mich nicht mehr losgelassen.
Daß wir, junge Kommunisten,
die wir Völker retten wollten
vor den Mördern und Barbaren,
selber zu Barbaren wurden,
konnte ich nicht mehr ertragen.
Eines Nachts, als mich die Schwester
einen Augenblick verlassen,
schlug ich schnell ein Glas in Scherben
und zerschnitt mir beide Pulse.
Heute schäm ich mich der Narben.

9
Wie du siehst, ich bin am Leben,
wurde als geheilt entlassen.
Doch damit ich wieder lernte,
daß ein schweres Leben besser
als ein leichtes Sterben ist,
ließ man mich nicht in der Heimat.
Deshalb schickten die Genossen
mich zur seelischen Genesung
hier nach Potsdam.
Und nun kannst du nicht begreifen,
was das alles noch mit deinen Drops zu tun hat?
Sieh mal, Junge.
In derselben Tasche hatte
ich die Waffe. Kinder essen
gerne Süßes. Klein und böse
hast du unter mir im Loch gesessen.
Und es war so gut. Ich konnte lachen.
Für den Sold, den ich bekomme,
es ist wenig, kaufe ich nur Süßigkeiten.
Treff ich Kinder, geb ich ihnen,
was ich in der Tasche habe.
Das ist alles, und du weißt ja –
alle Kinder kennen mich im Dorfe.

10
Und dann schwieg er, und wir rauchten.
Spielten mit der Glut der Zigaretten.
Ich stand auf und ging nach Hause,
denn ich konnte ihm nichts sagen.

Quelle:
Heinz Kahlau: Balladen, Aufbau Verlag 1976, S.79-88.

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6 Antworten zu Heinz Kahlau: Der Selbstmordversuch (1946)

  1. Thomas Muenzberg schreibt:

    Da möchte ich weinen und lachen zugleich, weinen ob der unendlichen Verwüstungen, auch in den Seelen und Herzen, ob des gerechten Zorns, ob des Mutes und der Menschlichkeit, bei den Menschen der Sowjetunion, aber auch nicht weniger aus meiner Heimat, wenn auch nicht genug – lachen und Frohsein, dass wir dann doch gemeinsam suchten eine bessere Welt aufzubauen und. dass es so viele Menschen unserer Völker vereint: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg !.

  2. Weber schreibt:

    Sascha, einfach danke.
    Solch wunderbare Texte konnten, noch besser, durften wir in der Alt-BRD nicht lesen. Vor 1969: Gefahr angeklagt zu werden mit Gefahr eingesperrt zu werden, und Verlust des Arbeitsplatzes. Nach 1972: Willy Brandt´s „Radikalenerlass“ – keine Anstellung im öffentlichen Dienst. Über 10.000 Menschen verloren ihren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst.

    (siehe – Die Zeit: „Radikalenerlass von 1972 – Nazis rein, Linke raus!
    https://www.zeit.de/2013/29/berufsverbote-radikalenerlass-1972/komplettansicht)

  3. Blogger schreibt:

    Darf ich das für meinen Blog haben?

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