Warum schreiben wir immer wieder über die DDR? Nun – die DDR war unser sozialistisches Vaterland. Es war keine „Partei-Diktatur“, wie immer wieder behauptet wird, sondern ein Staat, in dem die Arbeiterklasse die Macht hatte. Und was hatten wir doch für eine Arbeiterklasse! Großartige Menschen waren das – selbstbewußt und engagiert. Eben – eine sozialistische Arbeiterklasse. Wir konnten stolz darauf sein, wie sich das Klassenbewußtsein entwickelt hatte – im Laufe der Jahre. Und wir konnten stolz darauf sein, was wir geschaffen hatten – im Laufe der Jahre! Das, wovon die folgende Geschichte erzählt, hätte es in keinem kapitalistischen Land der Welt je gegeben. Niemals! Natürlich waren nicht alle so. Doch die so waren, das waren unsere Besten!
Danke, lieber Jürgen Nowak, für diese wunderbare Geschichte!
Maxhütte Unterwellenborn
Für den eingesessenen Thüringer ist Eisenhüttenstadt weit. Liegt irgendwo hinten an der Oder. Was wohl bedeuten soll: in der Öde. Eines Tages aber – es ist jetzt vier Jahre her – stellte dieses Eisenhüttenstadt die Heimatliebe einiger Thüringer auf die Probe. Was Männer ins Wanken brachte, war – ein Stahlwerk. Denn die Männer waren Stahlwerker, Maxhüttenkumpel. Bei ihnen machte die Runde, daß an der Oder ein sagenhaftes Konverterstahlwerk gebaut würde, das größte und modernste in Europa.
Nun ja, auch die gute alte Maxhütte war modernisiert worden, aber wie nahmen sich ihre 25-Tonnen-Konverter gegen ein 210-Tonnen-Aggregat aus, nicht zu reden vom Strangguß, der Entschwefelungsanlage und anderen feinen Sachen – von denen sich der Laie keine Vorstellung macht.
Der Ruf nach Eisenhüttenstadt
Bald schon zeigte sich, daß Bindungen an Berge und Wälder, an Freunde und Kollegen bröckelten. Die neue Technik zog sie hin, die ersten Abtrünnigen. Zudem hatte man den Weg von der Saale zur Oder verführerisch mit Rosen bestreut. Verständlich, denn das neuentstehende Werk brauchte Konverterspezialisten. Erfahrungsträger, wie man sie nannte. Ein Begriff, der bald schon ins Zwielicht geraten sollte.
Für Werner Holzhey war Eisenhüttenstadt ein rotes Tuch. Den Leiter des Blasstahlwerks in der Maxhütte erregte es, wie seine Leute mit unverhüllten Angeboten – Wohnung, Garage, Garten – gelockt werden sollten. Das brachte ihn auf. Wer läßt schon gerne seine besten Pferde ziehen?
Ein Kadergespräch in der Hauptstadt der DDR – Berlin
Eines Tages wurde sogar seine eigene Kaderakte angefordert. Und Werner Holzhey ins Ministerium bestellt … Auf der Rückfahrt von Berlin feierte er mit seinem Betriebsdirektor; der ihn auf dem schweren Weg begleitet hatte, den Sieg. Von wegen nach Eisenhüttenstadt! Glanzvoll abgeschmettert hatten sie dieses Ansinnen! Auch mit starken persönlichen Argumenten: Gerade hatte Werner Holzhey größere Summen in sein Haus investiert, Garage gebaut und Heizung; die Frau hing an ihren Kolleginnen in der Verkaufsstelle, die drei Kinder an ihren Schulfreunden; und überhaupt: Die Maxhütte war seine Welt und basta!
Große Entscheidungen…
Würdig befunden zu werden, in einem neuen Werk von so außerordentlicher Bedeutung eine Leitungsfunktion zu übernehmen, mag einem ja schmeicheln, aber eine derartige Avance kalt abzuweisen, das hebt ungeheuer. Sieg auf der ganzen Linie. Und wir wollen nicht fragen, wie oft auf dem Heimweg die Flasche kreiste.
Zu Hause aber – kaum zu glauben! – erntete er nicht nur Schulterklopfen. Ausgerechnet sein kleiner Bruder sah die Sache anders. Genauer muß man wohl sagen: einer seiner kleinen Brüder, denn sie waren 13 Geschwister. Den Manfred, sieben Jahre jünger, gerade Anfang 30, mußte er ernst nehmen. Der war Stahlbläser wie er. Und Feuer und Flamme: Sofort würde er an die Oder ziehen, dort sei die metallurgische Zukunft zu erleben, ein Drittel der DDR-Stahlproduktion werde dort erschmolzen, Stahlmarken edelster Güte, so ein Angebot bekomme man nie wieder…
Der Große und der Kleine
Nun guck mal an, der Kleine. Den er in die Hütte geholt, dem er das metallurgische Abc eingehämmert hatte! Der große Holzhey als Gießer, der kleine (auch körperlich kleinere, allerdings ebenso stabile) als sein Pfannenmann. Ihr Ehrgeiz lieferte den Kumpels Gesprächsstoff. Angeblich soll der Große dem Kleinen daheim am Waschtrog beigebracht haben, wie man den Stopfen setzt. Nur daß man in der Hütte nicht an der Wanne, sondern am Rand der glühenden Pfanne steht und mit einem anderthalb Zentner schweren Stopfen hantieren muß. Als der Kleine angesichts der sengenden Glut nach dem Hitzeschutznetz verlangte, wies ihn der Große ab: „Bei mir hat noch keiner mit Netz gearbeitet!“ Sollte heißen: Hier sind Kerle gefragt.
Zum Ingenieurstudium delegiert
Gleich darauf folgte, was Manfred Holzhey eine Weltpremiere nennt. Nach nur drei Schichten in der Maxhütte stand er völlig allein an der Pfanne. Sein Bruder Werner – er machte damals seinen Ingenieur – hatte Studientag. Eine wahre Feuertaufe für den Kleinen. Er rief nicht nach Hilfe, fragte auch nicht, wer das verantworten will. Alle verhielten sich so, als sei das nichts Besonderes, also tat er auch so. Diese Schicht, sagt er, werde er nie vergessen. Gewiß, er habe sich durchgebissen, obwohl die Schlacke rüber kam – das Schlacke-Sehen sei nämlich für den Gießer eine ganz wichtige Sache…
Ein „Hexeneinmaleins“…
Es dauerte nicht lange, da nahm er die Schlacke nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Ohren wahr, da konnte er ziemlich genau sagen, ob die Schmelze erst 1600 oder schon 1650 Grad hat, da erkannte er an Farbe und Gestalt der Flammen, wieviel Kalk, Erz, Kohle oder Mangan noch zugegeben werden muß, ob der Phosphor schon verbrannt ist usw. Für den Außenstehenden ein Hexeneinmaleins, für das sich Stahlbläser gern bewundern lassen. Äußerlich tragen sie das mit Gleichmut, lassen jedoch keinen Zweifel daran, wer der King am Konverter ist, selbst wenn sie längst von Analysenautomat und Rechner unterstützt werden.
Wo kein Wille ist, ist manchmal doch ein Weg
Nun also rief Eisenhüttenstadt, und Werner Holzhey wollte nicht hören. Aber wir wissen ja – spätestens seit Hermann Kants „Impressum“ –, daß auch, wo kein Wille ist, ein Weg durchaus sich findet. Denn Wollen ist subjektiv, Nichtwollen sogar defensiv, da läßt sich objektiv allemal was machen. Obwohl Werner Holzhey in der Maxhütte in dem Rufe stand, ein sehr strenger, hart fordernder und bisweilen aufbrausender Leiter zu sein, wollten ihm etliche seiner Kollegen an die Oder folgen. Schwieriger war es schon, die Frauen dafür zu gewinnen.
„Der reinste Ski-Zirkus!“
Werner Holzhey ließ sich was einfallen: Er lud die Ehefrauen interessierter Kollegen nach Eisenhüttenstadt ein. Zu einer Zeit, da alles im frischen Frühlingsgrün prangte, führte er vor, was eine Widerspenstige für die Stadt einnehmen könnte: Neubauwohnung und Kaufhaus ebenso wie die schöne Umgebung mit Schlaubetal und Helenensee und Skiabfahrtsgelände. („In Thüringen will mir kein Mensch glauben, daß wir hier gleich hinter der Stadt eine Piste mit Schlepplift und Schanze haben, sogar mit Pistenbeleuchtung – der reinste Skizirkus!“) Nun war Holzhey plötzlich selber ein Werber für Eisenhüttenstadt. Und bekam prompt Maxhüttenverbot, verhängt von seinem ehemaligen Skatbruder.
Umzug nach Eisenhüttenstadt
Wohl keiner der Übersiedler ahnte, was auf ihn zukommen würde, als sie im Frühjahr 1984 erwartungsvoll das nagelneue Konverterstahlwerk anfuhren. Nur ein Stahlbläser war noch beim Abstich am Konverter, zwei andere hingegen im bildschirmflimmernden Leitstand, am Rechner und bei der Schmelzprozeßsteuerung. Es sah phantastisch aus, nur es funktionierte nicht, jedenfalls nicht gleich so reibungslos wie gedacht. Eine solche Riesenanlage hat immer Schwachstellen, und die Besatzung erst recht, zumal viele Kollegen zuvor noch nie in einem Stahlwerk gearbeitet hatten.
Unter Kollegen und Genossen
„Vergünstigungen einstecken, das können sie, bloß das Stahlschmelzen liegt ihnen nicht so“, hieß es. Bald wurde jeder, der mit einer Sache nicht zurecht kam, ironisch „Erfahrungsträger“ genannt. Den einstigen Maxhütten-Kings ging das gewaltig an die Nerven. Zwölf Stunden mindestens, manchmal Tag und Nacht, waren sie im Werk. Ihre Frauen rückten in dieser Zeit näher zusammen, besuchten sich oft – geteiltes Leid … Fast schien es, als hätten sie ihre Männer ans Stahlwerk verloren. Und waren die Herren doch einmal dabei, drehten sich ihre hitzigen Debatten mit Sicherheit nur um ein Thema: den Stahl.
Da reagierte auch die geduldigste Ehefrau sauer: Als hätten sie auf Arbeit nicht genug Zeit, sich zu streiten! – Mittlerweile, soviel sei vorweggenommen, haben sich die Überstunden auf ein gewerkschaftlich vertretbares Maß reduziert. Allerdings, erzählen die Holzheys, gelte es noch immer als anrüchig, das Werk pünktlich zu verlassen, sogar eine halbe Stunde nach Feierabend ginge man am liebsten mit Tarnkappe aus dem Tor.
„Ich habe Leute gerne, die widersprechen“
In jener Zeit der vielen Mißerfolge war die Atmosphäre oft gespannt. Und entlud sich meist heftig. Auch der große Holzhey, Bereichsleiter für Stahlerzeugung, und sein kleiner Bruder kriegten sich bisweilen in die Wolle. „Manche waren erschrocken, wenn zwischen uns die Fetzen flogen“, sagt Manfred Holzhey. „Bei fachlichen Problemen kennen wir nichts, da hat sich der Werner schon mit manchem Vorgesetzten angelegt.“ Einfach aus Bequemlichkeit ja zu sagen, ist den Brüdern zuwider. „Ich habe Leute gerne, die widersprechen“, sagt Werner. „Wer als Leiter keinen Widerspruch duldet, sich rigoros durchsetzt, kann ganz schnell etwas Falsches durchsetzen.“
Sozialistische Gewohnheiten…
Abends hört er sich gerne ein bißchen unter den Kumpels um, erfährt von, ihren Problemen, rennt, um zu helfen, notfalls bis zum Generaldirektor. In extremen Situationen packt er auch mit dem Preßlufthammer im Stahlwerk zu, ackert meist dort, wo es am schwersten ist. Wer in einer Familie mit 13 Kindern auf gewachsen ist, hat das früh gelernt und fragt nicht lange, ob ihm das als Leiter zukommt oder etwa seinem Ansehen schadet. Ansehen kommt ohnehin mehr vom Durchsehen, von fachlicher Kompetenz, und da brauchen sich die Holzheys nicht zu verstecken.
Ehrlichkeit und Konsequenz
Gelegentlich taucht Werner Holzhey auch am Wochenende im Werk auf, nur um mal zu gucken; er kann aber bei Sündern bohrende Fragen stellen wie ein Staatsanwalt. Das Urteil folgt auf dem Fuße: Abzug des leistungsabhängigen Zuschlags. Auch sein kleiner Bruder mußte schon dran glauben. Der Große fackelt nicht lange, und seine alten Maxhüttenkumpel werden sogar härter angefaßt als andere. „Ihr müßt es wissen!“ ist sein Argument.
Cool bleiben!
Die Kings und Fehler – wie paßt das zusammen? Sind die Thüringer Erfahrungsträger, die hier in Eisenhüttenstadt Diplomingenieure angelernt haben, nicht über jeden Zweifel erhaben? „Man hat hier viel mehr Möglichkeiten, Fehler zu machen“, versucht Manfred Holzhey zu erklären. „Der Stahlbläser nennt sich hier Schichtleitingenieur, was besagt, daß er alles im Auge haben muß, den Konverter natürlich, aber auch Entschwefelung, Strangguß, Kranspiel, Abtransport der Schlacke usw. Wenn es irgendwo klemmt, ist in Windeseile zu entscheiden, was wir aus der Charge machen. In einem Konverterstahlwerk geht es immer heiß und hektisch her, aber der Bläser muß cool bleiben.“
Höchste Präzision ist Arbeiterehre!
Sie stellen 50 verschiedene Stahlmarken her und 100 Modifikationen. Oft wird die Schmelze nach dem Abstich noch aufs feinste bearbeitet, die Pfannenmetallurgie ist gewissermaßen die Delikatessenabteilung in der Stahlküche. In mancher Charge stecken allein für 100.000 Mark Legierungsstoffe, oft auch Spuren teurer Elemente wie Niob oder Titan. Oder der Schwefelgehalt muß auf 0,005 und der Wasserstoffgehalt gar auf 0,0003 Prozent gedrückt werden. Edle Stähle verlangen höchste Präzision. Es dauerte eine Weile, ehe sie das im Griff hatten.
Arbeit am neuen Konverter
Fühlen sich die Thüringer nun zu Hause an der Oder? Sicherlich, obwohl sie manchmal noch von „den Eisenhüttenstädtern“ reden, als gehörten sie nicht dazu. Nach wie vor beziehen sie Zeitungen „von daheim“, und fahren die Holzheys runter nach Thüringen, führt der erste Weg zur Mutter, aber schon der zweite in die Maxhütte. Mit nostalgischen Gefühlen … „Wenn ich heute den Konverter sehe“, sagt Manfred, „der mir früher so gewaltig vorkam, möchte ich ihn am liebsten in den Arm nehmen, so niedlich ist er mit seinen 25 Tonnen.“
…das ist unser Stahl!
Nein, sie bereuen ihren Schritt nicht. „Was ich in zwei Jahren Eisenhüttenstadt gelernt habe, hätte ich sonst mein ganzes Leben nicht gelernt“, sagt der Kleine. Und der Große, inzwischen Produktionsleiter des Konverterstahlwerks: „Du glaubst gar nicht, wie begehrt wir sind: Im Inland wie im Ausland reißt man sich um unseren Stahl!“ So ist das nun mal: Wenn die Holzheys von ihrem Zuhause reden, reden sie von der Arbeit. Und das sind – hört man nur richtig hin – die reinsten Liebeserklärungen.
Jürgen Nowak
Quelle: „Das Magazin“, Heft 10, Oktober 1987, S.26-29. Fotos: H.Schulze. (Zwischenüberschriften eingefügt, N.G.)
Nowak: Stahlwerker aus Leidenschaft
Das ist fast alles, was von der Maxhütte Unterwellenborn übrigblieb!
Das Recht auf Arbeit in der DDR – ein sozialistisches Grundrecht
Quelle: Lexikon Arbeitsrecht. Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1972, S.308.
Hat dies auf Muss MANN wissen rebloggt.
Hat dies auf Treue und Ehre rebloggt.
Iech habe diese wonderschone artikel geteilt auf Google und RT Deutsch
Materialien zur Analyse von Opposition (MAO)
https://www.mao-projekt.de/BRD/BAY/OPF/Regensburg_IGM_AB_1987_Maxhuette.shtml
Und in Weimar hatte man Anfang der 90er nichts Eiligeres zu tun als die Philipp-Müller-Straße in Cropiusstraße umzubenennen. Wer war Philipp Müller:
https://www.mao-projekt.de/BRD/PER/Mueller_Philipp.shtml
Lies das.