Einmal, es war wohl im Sommer 1956, nahm mich meine Mutter an die Hand, wir stiegen in den Interzonenzug und fuhren von Thüringen aus an den Neckar. Dort hatte Mutter eine Freundin – daß sie sehr reich war, erfuhren wir erst viel später. Nun mag diese Reise nichts besonderes gewesen sein, aber was mich erschreckte, waren die vielen überfreundlichen Leute, die uns mitleidig ansahen, mir Bonbons schenkten und meiner Mutter auf der Heimreise ein Päckchen Kaffee und ihre abgetragenen Klamotten mitgaben. Und dabei waren wir wirklich nicht so ärmlich angezogen. Diese Freundlichkeit erschien mir schon damals als sehr unecht, denn man beäugte uns im großen und ganzen doch recht mißtrauisch. Ja, wir waren „aus dem Osten“! Auch störte mich, daß die Tante, bei der wir nächtigten, immerfort Dienstboten um sich herum hatte, denen sie strenge Anweisungen gab, mal war es der Gärtner, dann war es Elisabeth, die Haushalthilfe, dann erschien der Postbote mit einer großen Ledertasche – ein ständiges Kommen und Gehen. Als ich die Geschichte von Hans Canjé las, erinnerte mich das alles wieder an meinen Besuch in dieser großen, fremden Stadt in einem fremden Land…
Eine Blitzreise durch die BRD (1976)
von Hans Canjé
Von Aachen bis Braunschweig sind es 415 Kilometer. Etwas über rooo Kilometer sind es von Flensburg bis Konstanz am Bodensee. Diese vier Städte sind im Westen, Osten, Norden und Süden ungefähr die Punkte, die jenen ungefähr 248.000 Quadratkilometer großen Staat begrenzen, der offiziell und mit betonter Anmaßung gegenüber der DDR Bundesrepublik Deutschland (BRD) heißt. Ende 1969 lebten in den zehn Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bayern, dem Saargebiet, Schleswig-Holstein und den beiden Stadtstaaten Hamburg und Bremen ungefähr 60 Millionen Menschen.
Das ist Westdeutschland…
Am sagenumwobenen Rhein, in Bonn, haben die offizielle Regierung der BRD und das Parlament, der Bundestag, ihren Sitz. Mit 150.000 Einwohnern gehört diese Stadt nicht gerade zu den Großstädten. Aber nicht nur darum spotten selbst bundesdeutsche Politiker über ihre Hauptstadt. Sie wissen vielmehr, daß die bedeutenden Entscheidungen für die Entwicklung der BRD dort gefällt werden, wo die Beherrscher der Wirtschaft ihre Zentralen eingerichtet haben: in München ( 1,2 Millionen Einwohner), Hamburg (1,9 Millionen Einwohner), Düsseldorf (750.000 Einwohner) oder in Frankfurt am Main (700.000 Einwohner). Das blieb so Praxis, seit der Bundestag am 7. September 1949 zu seiner ersten Sitzung zusammentrat.
Große Städte – bedeutende Namen
Bei vielen Städtenamen der BRD fällt uns etwas ein: In der Freien und Hansestadt Hamburg lebte und kämpfte der große deutsche Arbeiterführer Ernst Thälmann. Wladimir Iljitsch Lenin hat in seinen illegalen Kampfjahren in München gewohnt. Bei Köln denken wir an die Geschichte von den fleißigen Heinzelmännchen („Wie war zu Köln es doch vordem mit Heinzelmännchen so bequem…“) und dann natürlich an den Dom. In Düsseldorf wurde Heinrich Heine geboren. Anna Seghers kommt aus Mainz und Bertolt Brecht aus Augsburg. Die Verwaltungen dieser Städte werden nur ungern an diese ihre Söhne oder Töchter erinnert. Und auch die Stadt Wuppertal ist heute nicht sehr glücklich darüber, daß Friedrich Engels hier vor 150 Jahren geboren wurde. Mit einiger Mühe ist in Trier festzustellen, daß hier Karl Marx das Licht der Welt erblickte.
Klassenkämpfe einst und jetzt
Die Roten Matrosen von 1918 sind untrennbar verbunden mit der norddeutschen Hafenstadt Kiel. Wenn wir von Essen sprechen, dann erinnern wir uns an die Rote Ruhrarmee und daran, daß hier, inmitten des Ruhrgebietes, im Jahre 1952 der junge Kommunist Philipp Müller bei einer großen Jugenddemonstration gegen Krieg und Faschismus von der Polizei ermordet worden ist. In Karlsruhe haben die wichtigsten Gerichte der Bundesrepublik ihren Sitz. Hier amtiert das Bundesverfassungsgericht, das im Auftrage der Regierung am 17. August 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands verboten hat, und auch der Bundesgerichtshof, dessen politische Sonderrichter viele westdeutsche Patrioten zu hohen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt haben, sitzt in Karlsruhe.
Die kapitalistische Wirtschaft der BRD
27,1 Millionen Bürger der Bundesrepublik waren 1970 Erwerbstätige. Davon arbeiteten etwa 8,4 Millionen in rund 56.000 Industriebetrieben. 1,4 Millionen Jugendliche sind Lehrlinge. 1970 waren in den Werken und in den staatlichen Unternehmungen ungefähr 2 Millionen Arbeiter aus Spanien, Griechenland, der Türkei oder Italien beschäftigt. In der Kühlschrankproduktion steht die Bundesrepublik an fünfter Stelle in der Welt. Den vierten Platz nimmt die BRD bei der Weltstahlproduktion ein und den dritten Platz in der Weltproduktion von Werkzeugmaschinen. Das war ein bißchen viel an Zahlen – aber ohne Zahlen geht es nicht.
Unfaßbares…
Es wird auf den folgenden Seiten noch manche Zahl geben – wenn wir beispielsweise auf die Macht derjenigen zu sprechen kommen, die diesen Staat beherrschen. Manches wird dabei unglaublich erscheinen. Oder ist es leicht zu begreifen, daß der inzwischen verstorbene Großindustrielle Friedrich Flick 1972 in jeder Stunde über 64.000 Mark verdiente? Ebenso unfaßbar ist es wohl, daß der Bundesbürger Otto Fürst von Bismarck einen Wald von 70 Quadratkilometern Größe einfach einzäunen kann und jedermann das Betreten des Waldes verbieten darf. In die Zeiten der Fürstenherrschaft fühlen wir uns versetzt, wenn wir hören, daß der Fabrikbesitzer Carl Underberg mit einer Reitpeitsche vier Spaziergänger ungestraft prügeln durfte, als sie irrtümlich einen Weg benutzten, der durch sein Gutsgelände am Tegernsee führt.
Wer bestimmt in diesem Land?
Vergangenheit und Gegenwart stoßen sich immer wieder in diesem Staat. Hochmoderne Industrieanlagen prägen das Bild von Flensburg bis zum Bodensee. Der Arbeiter aber hat in diesen Betrieben kaum mehr zu sagen als sein Großvater in den weniger modernen Betrieben um die Jahrhundertwende. Ein beeindruckendes Bild bieten das Parlaments- und Regierungsviertel in Bonn. Millionen Steuergelder wurden dort verbaut. Arbeiter aber sind im Parlament der BRD nur mit der Lupe zu finden. Eintritt verboten! Ungeschrieben und geschrieben stoßen die Bundesbürger immer wieder auf dieses Gebot. Der führende Industriestaat Bundesrepublik wird von 100 allmächtigen und allgegenwärtigen Personen dirigiert.
Die Grundlage der Politik
Manches haben die Mächtigen dieses Staates in den letzten Jahren an ihren Herrschaftsformen ändern müssen. Die Stärke der sozialistischen Staaten und die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse im eigenen Land haben sie zu Zugeständnissen gezwungen. Grund und Boden aber, die Fabriken, die Warenhäuser und Zeitungen, die Buchverlage und Filmgesellschaften gehören immer noch einer verschwindend kleinen Minderheit. Von der Wiege bis zur Bahre wird das Leben der 60 Millionen Bundesbürger von einer Handvoll Millionäre bestimmt. Einiges werden wir von der Wirklichkeit der Bundesrepublik, ihrer Entstehung und ihrer Entwicklung kennenlernen. Wir werden sehen, daß dieser Staat das Instrument von Männern ist, die zum Teil große Schuld auf sich geladen haben, als in Deutschland der Hitlerfaschismus herrschte, als die faschistischen Machthaber ganz Europa mit Krieg überzogen. Wir werden sehen, daß in diesem Staat die Feindschaft zum Sozialismus, der Antikommunisrnus, Grundlage der Politik ist.
Eine fremde Sprache!
Es wird Deutsch gesprochen in diesem Staat. Viele Wörter aber werden uns fremd sein: Aus der Arbeit wurde der Job. Die Unterhaltungssendung im Fernsehen wurde zur Show. Der Ausgebeutete wird Arbeitnehmer genannt, und der Ausbeuter nennt sich Arbeitgeber oder Unternehmer. Mitunter, wenn die Klassenwirklichkeit vertuscht werden soll, nennen die Ausbeuter ihr Opfer auch Sozialpartner. Börse, Aktie, Aufsichtsrat, Dividende – auch diese Begriffe sind aus der Umgangssprache des DDR-Bürgers verschwunden.
Kommunistenverfolgung – wie unter Hitler!
Vieles von dem, was auf den folgenden Seiten über die Entwicklung der BRD geschildert wird, hat der Autor unmittelbar als Maurer, Funktionär der Gewerkschaftsjugend, Mitglied der Freien Deutschen Jugend, Kommunist und ab 1951 als Redakteur der kommunistischen Presse an Ort und Stelle miterlebt. Im September 1962, sechs Jahre nach dem Verbot der KPD, wurde er in Düsseldorf auf offener Straße von der politischen Sonderpolizei, der „Sicherungsgruppe Bonn“, verhaftet. Sein Eintreten für eine Friedenspolitik der BRD-Regierungen, seine Entlarvung der Umtriebe der alten und neuen Faschisten nannte der Bundesgerichtshof in Karlsruhe „Staatsgefährdung“. Am 31.Oktober 1963, strenger Einzelhaft, wurde das Urteil gesprochen: 30 Monate Gefängnis. Eine starke internationale Solidaritätsbewegung zwang die Bundesregierung im Jahre 1964, einige der politischen Gefangenen vorzeitig aus den Gefängnissen der BRD zu entlassen. Am 15. Dezember 1964, nach 27 Monaten Haft, öffneten sich auch für den Autor die Tore des Gefängnisses. 190 Mark hatte er im Gefängnis verdient. Mit diesem Geld fuhr er zu seiner Familie, um endlich seine Tochter Stephanie kennenzulernen. Sie war am 18.November 1962, zwei Monate nach seiner Verhaftung, geboren worden. Tochter und Vater kannten sich nur von Bildern.
Quelle:
Hans-Georg Canjé: Wo gestern heute ist. Der Kinderbuchverlag Berlin, 1976, S.5-15.
Hans Canjé war Journalist. Er schrieb dieses Buch über seine ehemalige Heimat, die westdeutsche BRD. Zum ersten Male lag damit 1976 ein populärwissenschaftliches Kinderbuch vor, in dem der Leser einen Einblick in den Entwicklungsweg der ehemaligen „Westzone“ zur Bundesrepublik erhielt. Die Aufgabe, die sich der Autor stellte, war bedeutsam: die historischen Wurzeln dieses Staates freizulegen, seine politische Zielstellung aufzuhellen, das gesellschaftliche Fundament zu analysieren und schließlich daran deutlich zu machen, daß es für uns in der DDR keine Gemeinsamkeiten mit diesem Staat geben konnte, denn während bei uns in der DDR das Volk regierte und die Produktionsmittel sich in den Händen des Volkes befanden, waren in diesem westdeutschen Staat die alten Nazis wieder an die Macht gekommen…
Siehe auch: Hans
Canjé: Kommunistenverfolgung in der BRD
Zur Verhaftung von Hans Canjé ein Bericht aus dem „Neuen Deutschland vom 29.11.1963 „Dem Frieden die Freiheit
Zur Solidarität mit den Opfern des Bonner Gesinnungsterrors hat in diesen Wochen vor Weihnachten das Komitee zum Schutze der Menschenrechte aufgerufen.
14 Monate im Kerker
Ein Opfer des Gesinnungsterrors ist der Journalist Hans Canjé, seit dem 20. September 1962 im Gefängnis Karlsruhe-Durlach eingekerkert, wohnhaft in Düsseldorf. verheiratet, fünf Kinder. Der Politische Strafsenat des Bundes-gerichtshofes in Karlsruhe verurteilte Hans Canjé zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis. Das Wahlrecht wurde ihm für die Dauer von fünf Jahren aberkannt. Diese hohe Strafe wurde verhängt, weil Hans Canjé Kommentare im Deutschen Freiheitssender 904 gesprochen haben soll.
Ankläger ist Nazi
Als Anklagevertreter amtierte Bundesanwalt Lösdau, der sich schon während der Hitlerherrschaft am faschistischen Amtsgericht Bromberg an einer Reihe von Terrorurteilen gegen polnische Bürger beteiligte. Wir fordern nachdrücklich: Schluß mit Bonns Unmenschlichkeit“
Ein Bürger der DDR wird in der Alt-BRD verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Sein „Verbrechen“, er soll Sprecher beim Deutschen Freiheitssender 904, ein legaler DDR-Radiosender, gewesen sein. Für Menschen aus der DDR galt das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung auf Alt-BRD-Gebiet nicht. Ebenso die Pressefreiheit wurde bei DDR-Journalisten außer Kraft gesetzt. Nochmals: die DDR war ein souveräner Staat.
„Die Zeit“ schrieb über den Deutschen Freiheitssender 904 (DDR) am 6.9.1956 folgendes: „Wer nach acht Uhr abends am Radioapparat auf die Suche nach flotter Musik geht, findet auf der Mittelwelle 331,9 Meter – so zwischen dem NDR/WDR und Radio Mailand – schmissige Rhythmen. Dann meldet eine Frauenstimme mit hörbar proletarischem Timbre: „Hier ist der deutsche Freiheitssender 904!“ Und anschließend spielt Kurt Edelhagen mit Glenn-Miller-Melodien auf, singt Caterina Valente mit metallenem Glanz den Refrain des Weill-Brechtschen Dreigroschenoper-Songs „… doch das Messer sieht man nicht“. Dann aber hört man die Mitteilung der Ansagerin, daß der Sender sein Mikrophon nun der „verbotenen und verfolgten KPD“ zur Verfügung stelle.“
Danke! – Hans Canjé war ein aufrechter, ein treuer Kommunist. Ich kann mich noch ein seine rauhe Stimme erinnern, wenn er Sonntags Kommentare in Radio DDR sprach…
In der Ost-CDU-Zeitung „Neue Zeit“ vom 1.12.1965 schrieb Hans Canje folgenden Artikel:
„Zwei Urteile
Zwei Tage hatten die Geschworenen des Kieler Schwurgerichts beraten. Dann fällten sie das Urteil: Der Fleischgroßhändler Gustav Fiedler ist schuldig der Teilnahme an der Ermordung von
120 000 jüdischen KZ-Häftlingen. Das Gericht verkündete das Urteil: „Im Namen des Volkes“ wird Gustav Fiedler zu dreizehn Monaten und zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Die Untersuchungshaft von zwölf Monaten wird angerechnet.
Zwölf Stunden vorher hatte das Politische Sondergericht in Lüneburg das Urteil gegen den Journalisten Otto Hans verkündet: „Im Namen des Volkes“ wird der Journalist zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt. Für fünf Jahre wird ihm das aktive und passive Wahlrecht abgesprochen. Zwei Urteile innerhalb von 24 Stunden entlarven, was im Westdeutschland des Jahres 1963 unter „Rechtsstaatlichkeit“ zu verstehen ist. Der Teilnehmer am Massenmord, der KZ-Scherge von Kulmhof, der ehemalige Polizeihauptwachtmeister Fiedler wird mit nicht einmal fünf Minuten Gefängnis je angelasteten Mord „bestraft“. Der Journalist Otto Hans aber, der sich dafür eingesetzt hat, daß die Fiedler nie wieder die Macht gewinnen in Deutschland, bekommt 900 Tage Haft zudiktiert.
Diese Urteile – Sie sind Geist vom Geist der mehr als 1800 Nazi- und Kriegsverbrecher, die heute in Westdeutschland in Regierung, Wirtschaft, Polizei und Justiz wieder amtieren.“
In Weimar hatte man um 1990 nichts Eiligeres zu tun als die Philipp-Müller-Straße in Gropius-Straße umzubenennen. Und in letzter Zeit verschwinden auch die letzten Ehrenhaine mit Thälmann-Reliefs und Gedenktafeln (Blankenhain, Erfurt).
Werter Herr/Frau/Genosse(in) Osti, und wie viele Bewohner Weimars (u.v.a. mehr) griffen 1989/90 gierig nach dem Kohl’schen „Begrüßungsgeld“ (100 DM)? Habt ihr alle damals geglaubt, dass gab es aus BONN aus „Menschlichkeit“ für „Brüder & Schwestern““?
Die neue Herren aus BONN wussten sehr gut, was sie taten, 100 schlappe DM gegen vollständige Selbstaufgabe! Es kam danach schnell, was komnen musste…, seither neokolonialistisch „Ossis“, „Ostdeutsche“ benannt……, die einstigen jubelnden Empfänger des „Begrüßungsgeldes“…
Warum HEUTE noch über Straßenumbenennungen der neue Herren klagen?
Soz. Gruß!
Die Herren aus Bonn haben ganz Andere gekauft! Nämlich diejenigen die im Hintergrund die Fäden gezogen haben und während das Begrüßungsgeld verteilt wurde, war das Kind DDR längst in den Brunnen gefallen!