W.I. Lenin: „Hyndman über Marx“ – Oder: Warum man das Falsche nicht unwiderlegt lassen darf…

HMHyndmanWarum darf man das Falsche nicht unwiderlegt lassen? Kurz nach Beginn der vorigen Jahrhundert erschienen in London die umfangreichen Memoiren eines gewissen Henry Mayers Hyndman. Hyndman wurde 1842 als Sohn eines wohlhabenden Geschäftsmannes in London geboren. Er hatte da und dort ein wenig studiert, galt zudem als passabler Kricketspieler, trieb sich ansonsten viel in den Londoner aristokratischen Clubs herum. Von körperlicher Arbeit schien er nicht allzuviel zu halten, und so zog er es vor, ein wenig in der Welt herumzureisen. Zurückgekehrt von seinen Reisen lernte er 1880 in London auch Karl Marx kennen, was er zum Anlaß nahm, ein Jahr später unter dem Titel „England for All“ auf ein paar Dutzend Seiten eine lächerlich-dumme Zusammenfassung von Marxens Werk „Das Kapital“ herauszubringen. Als Hyndman dann 1911 seine Memoiren veröffentlichte, blieb natürlich auch Karl Marx nicht unerwähnt. Dies nahm Lenin zum Anlaß, das Geschreibsel dieses selbstgefälligen und kleinkarierten Politpoeten ein wenig unter die Lupe zu nehmen…

Was die Sache interessant macht – wir erfahren hier wie Karl Marx sich gegenüber solchen aristokratischen Philistern verhielt. Lenin schreibt:

Wir beginnen mit den Erinnerungen Hyndmans an Marx. H. Hyndman lernte Marx erst im Jahre 1880 kennen und wußte allem Anschein nach damals sehr wenig von dessen Lehre, wie vom Sozialismus überhaupt. … Hyndman ging zu Marx als zu dem „großen analytischen Genius“…

Eine erste Begegnung mit Karl Marx

,,Der erste Eindruck“, schreibt Hyndman, „von Marx, als ich ihn erblickte, war der eines kräftigen, zottigen, unbändigen Alten, bereit, um nicht zu sagen begierig, sich in Konflikte zu stürzen, und selbst mit gewissem Argwohn jeden Moment eines Angriffs gewärtig. Doch seine Begrüßung war herzlich, und seine ersten Bemerkungen mir gegenüber, als ich ihm gesagt hatte, welch großes Ver­gnügen und welche Ehre es für mich sei, dem Autor des ,Kapitals‘ die Hand drücken zu dürfen, waren angenehm genug; denn er erzählte mir, daß er meine Artikel über Indien* mit Vergnügen gelesen und in seiner Zeitungskorrespon­denz günstig besprochen habe.“

* Hyndman war bis zu seiner unlängst vollzogenen Schwenkung zum Chau­vinismus entschiedener Gegner des englischen Imperialismus und führte von 1878 an eine lobenswerte Enthüllungskampagne gegen all die schändlichen Gewalttaten, Exzesse, Raubzüge und Beschimpfungen (die bis zur körperlichen Züchtigung der politischen „Verbrecher“ gingen), durch die sich die Engländer aller Parteien – einschließlich des „gebildeten“ und „radikalen“ Schriftstellers John Morley – in Indien seit jeher berühmt gemacht haben.

Nur ein paar Anekdoten…

„Als er mit wütender Empörung über die Politik der liberalen Partei, ins­besondere Irland gegenüber, sprach, sprühten die kleinen, tiefliegenden Augen des alten Kämpfers, die buschigen Brauen zogen sich zusammen, die breite, starke Nase und das Gesicht bebten sichtlich vor Leidenschaft, und er stieß einen Strom heftiger Anklagen hervor, die sowohl das Feuer seines Tempera­ments wie die vortreffliche Beherrschung unserer Sprache offenbarten.

Der Kontrast zwischen seinem Benehmen und seiner Ausdrucksweise, sobald Zorn ihn tief erregte, und seiner Haltung, wenn er seine Ansichten über die wirtschaftlichen Ereignisse einer bestimmten Periode darlegte, war frappant. Er vertauschte ohne sichtliche Anstrengung die Rolle des Propheten und heftigen Anklägers mit der des ruhigen Philosophen, und ich empfand vom ersten Augenblicke an, daß noch manches lange Jahr vergehen wird, bis ich aufhören würde, auf diesem Gebiet wie ein Schüler vor dem Meister zu stehen.“

Hyndman liest nun doch einiges von Karl Marx…

„Beim Lesen des ,Kapitals‘, und noch mehr beim Studium seiner kleineren Werke, wie seiner Adresse über die Pariser Kommune und seines ,18. Brumaire‘, überraschte mich, wie er die meisterhafteste und nüchternste Unter­suchung ökonomischer Ursachen und sozialer Wirkungen verband mit dem bittersten Haß gegen Klassen und sogar gegen einzelne Personen, wie Napo­leon III. und Thiers, die nach seinen eigenen Theorien kaum mehr waren als Fliegen an den Rädern des großen Juggernautwagens* der kapitalistischen Ent­wicklung.“

* Juggernaut – indisches Götzenbild, das auf einem hohen Wagen gefahren wurde, von dessen Rädern sich religiöse Fanatiker zerquetschen ließen. Der Übers.

Und weiter schreibt Lenin über die ansonsten bedeutungslose Autobiographie Hyndmans:

Welche Stellung Marx zu den verschiedenen Fragen einnahm, die er mit Hyndman besprach – darüber erfahren wir bei Hyndman in keiner einzigen Frage etwas Genaueres. Aus dem oben Dargelegten ist zu er­sehen, daß Hyndman sich vor allem und fast ausschließlich auf die anek­dotische Seite der Sache konzentrierte: Das entspricht dem gesamten üb­rigen Inhalt seines Buches. Die Autobiographie Hyndmans ist die Biogra­phie eines englischen bürgerlichen Philisters, der zu den besten seiner Klasse gehörte und sich zu guter Letzt zum Sozialismus durchrang, aber nie ganz die bürgerlichen Traditionen, die bürgerlichen Auffassungen und Vorurteile abstreifte.

Hyndman hat nichts begriffen!

Hyndman wiederholt die spießbürgerlichen Vorwürfe gegen Marx und Engels, sie seien die „Selbstherrscher“ in der „vorgeblich demokratischen“ Internationale gewesen, sie hätten nichts von der Praxis verstanden, keine Menschenkenntnis besessen usw., er unternimmt aber kein einziges Mal den Versuch, diese Vorwürfe an Hand einer genauen, konkreten Dar­legung der Umstände in den entsprechenden Momenten zu beurteilen. Was dabei herauskommt, ist eine Anekdotensammlung, aber keine historische Analyse eines Marxisten.

Keine Ahnung vom „Demokratismus“ der Lasalleaner…

Marx und Engels hätten gegen die Vereinigung der deutschen Sozialdemokratie (mit den Lassalleanern) gekämpft, die Vereinigung sei aber notwendig gewesen! Das ist alles, was Hyndman vorzubringen weiß. Daß Marx und Engels gegenüber Lassalle und den Lassalleanern prinzipiell tausendmal recht hatten, darüber findet man bei Hyndman kein Wort. Hyndman stellt nicht einmal diese Frage. Ob der (organisatorische) „Demokratismus“ in der Epoche der Internationale nicht ein Deckmantel für bürgerliche Sekten war, die den Auf­bau einer proletarischen Sozialdemokratie hintertrieben – diese Frage legt sich Hyndman nicht einmal vor.

Hyndmans Marxverfälschungen auf 194 Seiten…

Hadnman originalIm Jahre 1881 veröffentlichte Hyndman eine Broschüre: ,,England für alle“, in der er sich zum Sozialismus bekennt, aber ein sehr, sehr ver­worrener bürgerlicher Demokrat bleibt. Die Broschüre wurde für die da­mals entstandene „Demokratische Föderation“ (keine sozialistische Orga­nisation) verfaßt, in der es eine Menge antisozialistischer Elemente gab. Und Hyndman brachte es fertig, in zwei Kapiteln seiner Broschüre Aus­züge aus dem „Kapital“ wiederzugeben, abzuschreiben, ohne Marx zu nennen, nur im Vorwort sprach er dunkel von einem gewissen „großen Denker und originellen Schriftsteller“, dem er vieles verdanke usw.

Karl Marx protestiert gegen dieses Machwerk

Aus diesem Grunde „entzweite“ mich Engels mit Marx – erzählt Hyndman – und führt gleichzeitig einen Brief von Marx an ihn an (vom 8. Dezem­ber 1880), in dem Marx schreibt, daß er, Hyndman, auf Grund seiner eigenen Worte, „in bezug auf England die Ansichten meiner Partei“ (d. h. der von Marx) „nicht teilt“. Wenn ein Mensch Marx kennenlernt, in nähere Beziehungen zu ihm tritt, sich als seinen Schüler bezeichnet, dann eine „demokratische“ Föderation gründet und für diese eine Broschüre schreibt, in der er den Marxismus verfälscht und Marx mit Schweigen übergeht, so liegt es auf der Hand, daß Marx dies nicht ohne „wütenden“ Protest hingehen lassen konnte.

Hyndman redet sich heraus…

Offenbar ist auch ein Protest erfolgt, denn in demselben Brief an Sorge bringt Marx Stellen aus Entschuldigungsbriefen Hyndmans, der sich damit zu recht­fertigen suchte, daß die „Engländer nicht gern bei ,Ausländern‘ lernen“, daß der „Name Marx so verhaßt sei“ (!!)usw. (Hyndman selbst teilt mit, daß er fast alle von Marx an ihn gerichteten Briefe vernichtet habe, so daß von dieser Seite eine Aufdeckung der Wahrheit nicht zu erwarten ist.) Nicht wahr, schöne Entschuldigungen! …“

…eine „intellektuelle Unwahrheit“

Höchst sinnfällig zeigen sich die damaligen Meinungsverschiedenheiten zwischen Marx und Hyndman darin, wie letzterer Marx‘ Urteil über Henry George wiedergibt. Dieses Urteil ist aus dem Brief von Marx an Sorge vom 20. Juni 1881 bekannt. Hyndman verteidigte Henry George bei Marx mit solchen Argumenten, wie „George wird durch das Einpauken des Falschen den Leuten mehr beibringen als andere durch Auseinandersetzung der vollen „Wahrheit“.

„Marx“, schreibt Hyndman, „wollte das als berechtigtes Argument nicht gelten lassen. Die Verbreitung des Falschen könne niemals für das Volk gut sein, das war seine Ansicht. Das Falsche unwiderlegt lassen hieße der intellektuellen Unehrlichkeit Vorschub leisten. Für zehn, die weiter­gehen, könnten hundert sehr leicht bei George stehenbleiben, und das ist eine zu große Gefahr, um sie zu riskieren.“ So sprach Marx!!

Quelle:
W.I. Lenin, Werke, Dietz Verlag, Berlin 1963, Bd.17, S.295-301. (Zwischenüberschriften eingefügt, N.G.)


P.S. Natürlich konnten es sich einige britische und US-amerikanische Verlage nicht entgehen lassen, dieses lächerlich-dumme und falsche Machwerk (es umfaßt 194 Seiten!) dieses bürgerlichen Philisters Hyndman erneut (sogar in Rußland!) in einer Neuauflage zum Preis von 45 $ auf den Markt zu werfen in der Hoffnung, daß die Verblödung der Leser schon so weit fortgeschritten ist, daß man derartige Marxfälschungen benötigt, um den Kapitalismus zu begreifen…

Hier die originale Textausgabe von Karl Marx „Das Kapital“, Bd.1-3 im Dietz Verlag Berlin:

Marx Kapital

 

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Eine Antwort zu W.I. Lenin: „Hyndman über Marx“ – Oder: Warum man das Falsche nicht unwiderlegt lassen darf…

  1. Thomas Artesa schreibt:

    Nur all zu leicht l¨lässt sich da ein Bogen zur modernen Zeit spannen. Viele dröge und schnöde „Armchair Philosophers“ kotzen nur ihre selbstgefällige und selbst-weinerliche Kritik am Marxismus / Leninismus, dem real existierenden Sozialismus der DDR oder der all zu „schlimmen“. Konsum-Demokratie aus und bleiben im Grunde ihres verfaulten Herzens doch lieber am ranzigen Busen des kapitalistischen Systems kleben. Ja, ja – das neuste Smartphone-Modell lacht schon im Schaufenster. Erkennungs-Chip inklusive mit Alexa ist zwar lästig, stört aber nicht weiter die Stehpartie im luftigen Biergarten. Ab und an wird mal demonstriert, weil es eben am sonnigen Wochenende so schick ist, mit Öko-Frau und grünem Kinderwagen gesehen zu werden. Kant, Hegel, Nietzsche, Marcuse oder jetzt Lesch und Precht zeigt man da gerne bei Hofe der Neo-Fürsten wie einst Voltaire bei seinem alten Fritz. Bla, bla, bla – es tut ja nicht weh und am Montag wird wieder für den Boss und dessen Mehrwert gebuckelt .
    Fazit: Natürlich bleibt Stalin im eisernen Giftschrank – und wer jetzt noch Saddam Hussein, Gaddafi, Hugo Chávez oder andere Renegaten der Geschichte erwähnt, gehört auf die Galeere – Sic!

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