A.S. Makárenko: Die Freude als Mittel der Erziehung

BCCO
Ein sozialistisches Studentenkollektiv in der Sowjetunion*

Das Leben innerhalb einer Gesellschaft hat nur dann einen Sinn, wenn es von einer klaren Perspektive beseelt ist. Der sowjetische Pädagoge Makárenko (1888-1939) erreichte es, mit wenig Mitteln, mit gutem pädagogischen Gespür für die Wünsche und Träume seiner Zöglinge und mit bolschewistischer Überzeugungskraft wahre Wunder zu vollbringen. Selbstredend ist eine solche heroische Erziehungsaufgabe nur dann umsetzbar, wenn dafür auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind. Die Sowjetunion war ein sozialistischer Staat, in dem sich die Produktionsmittel nicht im Privatbesitz einiger weniger, ausbeuterischer Oligarchen befanden, sondern Eigentum des Volkes waren. Schon unittelbar nach der lange erstrebten Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917 hatte des Leben begonnen, sich zu verändern. Es gab wieder etwas, wofür es sich lohnte zu leben. Es gab Perspektiven, und endlich hatte auch das Leben wieder einen Sinn!

Hans Berger

Über die Bedeutung pädagogischer Perspektiven

Erst das Vorhandensein eines Kollektivs ermöglicht die Gestaltung kol­lektiver Bedürfnisse und Zielsetzungen im Bewußtsein der Zöglinge und die Eingliederung individueller Interessen in die der Gemeinschaft.

Aus diesen Erwägungen heraus fordert Makarenko, daß es das erste Ziel der Erzieher sein muß, das Kollektiv ihrer Zöglinge oder ihrer Schüler zu schaffen. Bei der erfolgreichen Bewältigung dieser Aufgabe ist die päd­agogische: Perspektive dem Erzieher ein unerläßliches Hilfsmittel. Ohne ihre Anwendung kann das KoUektiv weder geschaffen noch entwickelt werden. Es ist kein Zöglingkollektiv vorhanden, wenn die Zöglinge nicht gemeinsame Ziele ihres Heimes, ihrer Schule vor sich sehen und nicht von dem Wunsch erfüllt sind, diese Ziele zu erreichen.

„Das erste Merkmal eines Kollektivs ist“, so schreibt Makarenko, „daß es nicht ein Haufe ist, sondern ein zielstrebig aufgebautes und wirkendes Organ, das zum Handeln befähigt ist.“ [40]

Die pädagogischen Perspektiven sind Mittel und Bedingung der Ent­wicklung und Merkmal des Zöglingkollektivs zugleich.

Die Kollektiverziehung von A. S. Makárenko

Makarenko erkannte, daß der Bestand des pädagogischen Kollektivs nur durch die „…Bewegung zu den klar aufgestellten Zielen“ [41] garantiert ist, daß das „…universale Gesetz der Entwicklung“ [42] seine Kraft auch im Lehen des pädagogischen Kollektivs zeigt und seine Nichtbeach­tung durch den Erzieher zum Zerfall des Zöglingkollektivs und damit zur Zersetzung des Erziehungsprozesses führt.

Eine bittere Lehre

Diese Erkenntnis von der bedeutsamen Rolle vor allem der weiten Perspektiven in der Entwicklung des Kollektivs gewann Makárenko, als er nach den Ursachen für den Freitod des Zöglings Tschobot forschte. Das Kollektiv der Gorki-Kolonie war zu dieser Zeit nicht mehr von großen, kämpferischen, alle Kräfte anspornenden Perspektiven erfüllt, sondern. sein Organismus arbeitete wie eine Maschine. Makarenko schreibt:

„Ja, beinahe zwei: Jahre standen wir nun auf einem Fleck: dieselben Felder, dieselben Blumenbeete, diese ewig gleiche Tisohlerarheit und derselbe Kreislauf des Jahres.“ [43]

Dieser Zustand führte zur Krise bei dem Zögling Tschobot, der während dieser Zeit gerade durch heftige persönliche Kon­flikte erschüttert war. Das Fehlen bedeutender kollektiver Perspektiven, die auch ihn erfaßt und mitgerissen hätten, war ein entscheidender Grund dafür, daß er diese Konflikte nicht bewältigen konnte, sondern, nur seine eigenen Schwierigkeiten sehend, an ihnen zugrunde ging.

Was war da falsch gelaufen?

Das Versagen Tschobots war für Makarenko das Symptom dafür, daß das Kollektiv seine Hauptfunktion, nämlich Erzieher der Persönlichkeit zu sein, nicht mehr in vollem Umfang erfüllte. Es konnte sie nicht mehr wie früher erfüllen, da es sich auf Grund des Fehlens bedeutender Perspek­tiven und mit ihnen verbundener großer Aufgaben nicht mehr vorwärts, sondern nur noch in sich selbst bewegte. Das aber war der Beginn des Zerfalls des Kollektivs.

„Die Daseinsform eines Kollektivs freier Menschen ist Fortschritt, die Form des Todes dagegen – Stillstand.“ [44]

Die Aufgabe des Erziehers

Die ständig vorwärtssehreitende Entwicklung des Zöglingkollektivs aber ist nur möglich, wenn immer neue verlockende und wertvollere pädagogi­sche Perspektiven bewußt vom Erzieher eröffnet und entwickelt werden.

Das Leben der von Makarenko geleiteten Zöglinglwllektive war – ab­gesehen von der eben erwähnten Periode – immer von bedeutenden und weniger bedeutenden, aber stets begeisternden nahen, mittleren und weiten Perspektiven erfüllt. Ob wir an die Bewachung des Staatsforstes, die Über­siedlung der Kolonie nach dem Trepkeschen Gut, die Theateraufführungen, die großen Ferienwanderungen, die Teilnahme der Kolonie an Demonstra­tionen, die Eroberung von Kurjash, das Fest der ersten Garbe, den Eintritt in die Arbeiterfakultät oder an die Herstellung von elektrotechnischen beziehungsweise optischen Geräten zum Nutzen des sozialistischen Vater­landes denken, ständig standen vor dem Kollektiv der Zöglinge immer neue und bedeutendere Perspektiven, die das bedeutsamste Motiv ihrer Arbeit, ihres moralischen Verhaltens und Denkens waren.

Welche Bedeutung haben Perspektiven?

Die Bedeutung der pädagogischen Perspektiven bei der Entwicklung des Kol1ektivs, wird durch folgende Äußerung Makarenkos zusammen­gefaßt:

„Vielleicht besteht der Hauptunterschied zwischen unserem Er­ziehungssystem und dem bürgerlichen eben darin, daß bei uns das Kinder­kollektiv unbedingt wachsen und reicher werden, daß es vor sich eine bessere Zukunft sehen muß und ihr in freudiger gemeinsamer Anstren­gung, in beharrlichen, frohen Träumen entgegenstreht. Vielleicht liegt gerade darin die wahre pädagogische Dialektik.“ [45]


Die Lehre A. S. Makarenkos von der Methodik der Herausbildung pädagogischer Perspektiven

Das Verständnis für das Wesen, die Funktion und die Rolle der pädagogi­schen Perspektiven gewinnt dann größte Bedeutung, wenn es sich darum handelt, von ihm ausgehend entsprechende Schlußfolgerungen für die Gestaltung der praktischen pädagogischen Arbeit zu ziehen. Die Haupt­aufgabe der pädagogischen Wissenschaft ist nicht die Interpretation der pädago.gischen Praxis, sondern ihre Veränderung im Sinne einer qualitativen Höherentwicklung. Das Erforschen und Darstellen der Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten des Erziehungs- und Bildungsprozesses ist zwar eine sehr bedeutsame Aufgabe, sie entbehrt jedoch jedes gesellschaftlichen Wertes, wenn die gewonnenen Erkenntnisse nicht zur immer rationelleren und fruchtbaneren Gestaltung des Erziehungsproze:sses im Interesse der sozialistischen Gesellschaft angewandt werden.

Das Wesen der sozialistischen Pädagogik

Es ist ein Wesenszug der sozialistischen Pädagogik, Theorie und Praxis der Erziehung als eine un­trennbare Einheit aufzufassen und diese Einheit immer zu bewahren und vor Augen zu haben. A. S. Makarenko ist vor allem deshalb der größte Vertreter der sozialistischen Pädagogik, weil sein Schaffen eine hervor­ragende Demonstration der Einheit, der gegenseitigen Befruchtung von Theorie und Praxis der sozialistischen Erziehung ist.

Ein meisterhaftes Beispiel!

So stellte Makarenko auch nicht nur Inhalt, Form, Funktion und Bedeu­tung der pädagogischen Perspektiven dar, sondern bearbeitete in unmittel­barer Verbindung damit die Frage nach der Anwendung der Perspektiven in der praktischen pädagogischen Arbeit. Dabei ist besonders bedeutsam, daß er nicht nur allgemeine Schlußfolgerungen für die Tätigkeit des Erziehers zog. In seinen belletristischen Schriften demonstriert Makarenko an vielen Beispielen meisterhaft, wie er selbst mit pädagogischen Perspek­tiven arbeitete. Wir erfahren von den Bedingungen, unter denen diese Arbeit durchgeführt wurde, von ihren Erfolgen und Mißerfolgen.

Hinweise für die Erziehung

So gewinnen wir durch eine Analyse der von Makarenko in lebendigen Bildern dargestellten Methodik der Arbeit mit pädagogischen Perspektiven auch wichtige Erkenntnisse für die Bedingungen der Wirksamkeit päd­agogischer Perspektiven und ihre Stellung im Zusammenwirken mit anderen Erziehungsmitteln.

Makarenko schreibt in seinem „Buch für Eltern“, daß der tiefere Sinn der Erziehungsarbeit darin besteht, „…die menschlichen Bedürfnisse richtig auszuwählen und zu entwickeln und sie bis zu der sittlichen Flöhe zu führen, … die allein den Menschen zum Kampf für eine weitere Ver­vollkommnung anspornen kann“. [46]

Eben das kennzeichnet die praktische Anwendung der Perspektiven als Mittel der sozialistischen Erziehung.


Wie schafft man pädagogische Perspektiven?

Die Grundzüge der Methodik zur Schaffung pädagogischer Perspektiven stellt Makarenko wie folgt dar:

„Die Methodik dieser Arbeit besteht darin, daß neue Perspektiven geschaffen, bereits vorhandene ausgenutzt und all­mählich durch wertvollere ersetzt werden, stets aber muß man die, Perspektiven des ganzen Kollektivs mit Leben erfüllen, sie. allmählich erweitern und bis zu den Perspektiven der ganzen Union führen.“ [47]

Im Rahmen der folgenden Betrachtung wird besonders dargestellt, wie Makarenko die einzelnen Prinzipien der Arbeit mit pädagogischen Per­spektiven bei: der Entwicklung allgemeiner kollektiver Perspektiven an­wandte.


Die Organisation des Inhalts der Freude von morgen und seine Gestaltung zur Perspektive im Bewußtsein der Zöglinge

Das erste von Makarenko entwickelte Prinzip für die Schaffung pädago­gischer Perspektiven im Bewußtsein der Zöglinge formuliert er im „Päd­agogischem Poem“ wie folgt: „Zunächst muß die Freude selbst geschaffen werden, man muß sie ins Leben rufen und sie zur Realität machen.“ [48]

Um diese Forderung Makarenkos zu erfüllen, sind zwei Aufgaben zu lösen. Der Erzieher muß zuerst die objektive Voraussetzung für die Ent­wicklung der Freude von morgen schaffen und dann diese selbst im Be­wußtsein der Zöglinge hervorrufen.

In der Zeit, als die Gorki-Kolonie noch sehr arm war und sich das Kollektiv nach der Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse sehnte, von reichlicherem Essen, warmer Kleidung und schönen Wohn- und Ar­beitsräumen träumte, entdeckte Makarenko zufällig das verlassene Trep­kesche Gut. Sofort wurde es zu einem Bestandteil seiner pädagogischen Pläne; er sah eine reale Möglichkeit, die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie voranzutreiben und damit ein reicheres Leben für das Kollektiv zu schaffen.

Auf einem Spaziergang zeigte er einigen Zöglingen die Ruinen des ver­fallenen Gutsgebäudes, die noch arbeitende Mühle, die schöne landschaft­liche Umgebung. Ungläubig und ablehnend reagierten die Zöglinge zu­nächst auf Makarenkos \Vorte: „Sollten wir nicht unsere Kolonie hier einrichten?“ [49]

Erst als er wiederholt seine Ansicht betonte, daß man das verfallene Gut mit den Kräften des Kollektivs wieder instandsetzen könne, da fingen die Jungen Feuer: „O ja, das würde eine Kolonie … mit Fluß, Garten und Mühle.“ [50] Und in ihrer Phantasie verwandelten sich die Ruinen in Schlaf- und Speiseräume, in helle Schulräume und in ein schönes Klubzimmer.

„Zu Hause angekommen“, erzählte Makarenko, „waren wir müde und taten­durstig. Im Schlafsaal wurden lärmend alle Einzelheiten der neuen Kolonie besprochen.“ [51] Die Zöglinge sahen ein schönes großes Ziel vor sich; ihre Träume von einem besseren Leben nahmen festere Gestalt an, waren in den Bereich realer Möglichkeiten gerückt. Eine neue große Freude hatte ihr Gefühl erfaßt, ihre Gedanken belebt.

Ein Traum muß auch erfüllbar sein!

Doch noch war die Möglichkeit der Verwandlung des verfallenen Gutes in eine schöne Wohn- und Arbeitsstätte für die Kolonie, noch war der Inhalt, das Ziel ihrer Wünsche – ein reiches, glückliches Lehen in schönen Gebäuden zwischen großen Wiesen und Feldern – nicht zur Uberzeugung der Zöglinge geworden. Mitten in ihr Pläneschmieden hinein warf eine Erzieherin den Satz: „Wißt ihr, Jungens, es ist nicht gut, sich unerfüllbaren Träumen hinzugeben, das tun Bolschewisten nicht.“ [52] Die Bestürzung der Zöglinge über diesen Vorwurf charakterisierend, schreibt Makarenko: „Im Schlafsaal trat peinliche Stille ein.“ [53]

Makarenko spürte, daß es in diesem Augenblick darauf ankam, allen Wankelmut zu überwinden, damit Freude und Tatendrang der Zöglinge nicht erlahmten, sondern erhalten blieben und gestärkt wurden. „Voller Zorn sah ich Jekaterina Grigorjcwna an und schlug mit der Faust auf den Tisch: ,Und ich sage Ihnen, in einem Monat gehört das Gut uns. Wäre das bolschewistisch?‘“ [54] Begeistert stimmten ihm die Zöglinge zu; jetzt war der Aufbau des Trepkeschen Gutes für sie zu einer Gewißheit geworden: Das Kollektiv war von einer weiten Perspektive seiner Entwicklung erfaßt.

Der großen Verantwortung und Verpflichtung bewußt, die er mit diesen Worten gegenüher dem Zöglingkollektiv auf sich genommen hatte, ging Makarenko sofort daran, die Obergabe des Gutes an die Kolonie als die grundlegende Voraussetzung für die Realisierung der Perspektive zu er­reichen. Es gelang.

Das Entwerfen von Zukunftsplänen für die Instandsetzungsarbeiten und für das zukünftige, glückliche Leben in der neuen Kolonie gehörten fortan zum Alltag der Gorki-Kolonie, der dadurch froher und zielstrebiger wurde [55].


Welche Regeln  muß man beachten?

Die Perspektive des neuen Lebens, die Makarenko immer wieder ausschmückte, war im Kollektiv so fest verwurzelt, daß die Zöglinge, wie Makarenko schreibt, die Opfer für die Wiederherstellung der zweiten Kolonie mit ruhiger Gelassenheit und freudiger Überzeugung auf sich nahmen [56]. Mit diesem Beispiel gibt Makarenko dem Erzieher eine Reihe von Regeln, die zur Realisierung des ersten Prinzips der Herausbildung pädagogischer Perspektiven angewandt werden müssen. Im Hinblick auf die Organisation des Inhalts der Perspektive sind dies folgende:

a) Der Inhalt der pädagogischen Perspektive muß so ausgewählt werden, daß seine Realisierung die Erfüllung einer pädagogischen Aufgabe bedeutet.

Die Errichtung der neuen Kolonie schweißte das ZöglingkoHektiv fest zusammen, lehrte die Zöglinge, für eine große gemeinsame Sache persön­liche Opfer zu bringen. Das neue Lehen brachte den Zöglingen die Er­füllung ihrer elementaren Lebensbedürfnisse, ihr Interessenkreis erweiterte sich, das Lernen wurde zum Mittelpunkt der täglichen Arbeit. Neue wert­vollere Perspektiven konnten entwickelt werden.
Über die pädagogische Bedeutung der Errichtung der zweiten Kolonie schreibt Makarenko: „Der großartige Aufstieg unseres Kollektivs und die Siegesfanfaren am Kolomak hatten das Selbstgefühl der Zöglinge gewaltig gehoben. Fast ohne Schwierigkeiten gelang es uns, an die Stelle der Schusterideale das aufwühlende und schöne Wort Arbeiterfakultät zu setzen.“ [57]

b) Der Erzieher muß anstreben, auch gesellschaftlich wertvolle Aufgaben, die unmittelbar der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft dienen, als Inhalt pädagogischer Perspektiven auszuwählen.

Die Instandsetzung der Ruinen des verfallenen Gutes und die Bebauung seiner Felder waren in der Periode der Wiederherstellung der Volkswirt­schaft in der UdSSR eine gesellschaftlich bedeutsame Tat.

c) Der Erzieher muß bei der Auswahl des Inhalts der pädagogischen Per­spektive den Stand der erzieherischen Vorbereitung des Kollektivs be­rücksichtigen,

Die Gründung einer neuen Kolonie mit einer großen Landwirtschaft entsprach vüllig den berechtigten Bestrebungen des Zöglingkollektivs nach Befriedigung bestimmter elementarer Lebensbedürfnisse. Die Realisierung des Inhalts dieser Perspektive bedeutete die Erreichung der nächsthöheren Stufe in der Entwicklung des Kollektivs, das gesteckte Ziel war allen Zög­Iingen verständlich und erschien ihnen zweckmäßig und vernünftig.

d) Der Erzieher muß als Inhalt der pädagogischen Perspektive eine objelctiv existierende Gegebenheit beziehungsweise eine reale Möglichkeit aus­wählen.

Im beschriebenen Beispiel ist beides vorhanden. Der Fluß, die Felder, der Garten, die Anhöhe, die Mühle – das waren die objektiven Gegeben­heiten des Inhalts der Perspektive. Die Verwandlung der Ruinen in eine schöne neue Wohn- und Arbeits­stätte für das Kollektiv, die Vorstellung vom reicheren, glücklicheren Leben – das waren die vor den Zöglingen sich eröffnenden realen Mög­Iichkeiten der Perspektive.

e) Der Erzieher muß alle Voraussetzungen dafür schaffen, daß der Inhalt der eröffneten Perspelctiven für das Kollektiv zur objektiven Realität wird.

Makarenko traf sofort nach der Eröffnung der Perspektive alle Maß­nahmen, um ihre Realisierung zu sichern. In der Regel sollte jedoch die Erfüllung einer solchen Voraussetzung, die außerhalb der Kompetenzen des Erziehers liegt, wie es hier die Obergabe des Gutes durch die Organe der Sowjetmacht an die Kolonie war, vor der Eröffnung der Perspektive geschehen.

Die Tatsache, daß das nicht immer möglich ist, und die sich hieruus ergebende Gefahr, daß die Perspektive nicht realisiert werden kann, haben jedoch auch ihre pädagogische Bedeutung: die Kinder müssen durchaus lernen, Enttäuschungen zu ertragen. Solche Situationen dürfen aber auf keinen Fall bewußt herbeigeführt werden. Sie müssen Ausnahme­erscheinungen bleiben. Werden einmal eröffnete Perspektiven häufig nicht realisiert, so erziehen wir unsere Kinder zur Mutlosigkeit, zum Mißtrauen, zur Passivität, zu pessimistischen Zweiflern, die nur noch sehr schwer für eine Sache zu begeistern sind.


Welche Verantwortung hat der Erzieher?

Makarenko weist den Erzieher besonders eindringlich darauf hin, daß die pädagogischen Perspektiven nur dann als wertvolle Mittel der sozia­listischen Erziehung wirksam werden können, wenn der Erzieher mit der ganzen Kraft seiner Persönhchkeit mit dem Kollektiv um die Realisierungi der Perspektiven kämpft und alle Voraussetzungen für ihre Realisierungj schafft. Er schreibt: „Es ist selbstverständlich, daß das Spiel der Perspek­tiven nur dann wirksam sein wird, wenn Sie tatsächlich um das Kollektiv besorgt sind, wenn Sie sich wirklich bemühen, dessen Leben freudvoller zu gestalten, wenn Sie das Kollektiv nicht betrügen, indem Sie ihm vielver­sprechende Perspektiven zeigen, die sich dann nicht verwirklichen lassen.“ [58]

In Bezug auf die Lösung der Aufgabe, den Inhalt der Freude von mor­gen als Perspektive im Bewußtsein der Schüler zu gestalten, können fol­gende Regeln für die Arbeit des Erziehe.rs ans dem beschriebenen Beispiel abgeleitet werden:

a) Der Erzieher muß im Bewußtsein der Zöglinge eine klare Vorstellung vom Inhalt der Perspektive schaffen.

Makarenko zeigte seinen Zöglingen auf einem Spaziergang das verlassene Gut mit seiner schönen Umgebung und lehrte sie, an Stelle der Ruinen das Glück von morgen zu sehen. Damit gab er ihren Träumereien von einem besseren Leben eine reale Grundlage, auf der sich die Phantasie der Zöglinge um so reicher entfalten konnte; die Wünsche der Zöglinge wurden wirklichkeitsnäher und zielstrebiger [59], Die klare Erkenntnis des in der Perspektive enthaltenen Ziels ist eine unerläßliche Voraussetzung dafür, daß die Perspektive zum Motiv des zielgerichteten Handelns des Kollektivs wird.

b) Der Erzieher muß den Zöglingen bewußtmachen, daß die Realisierung des Inhalts der Perspektive gleichbedeutend ist mit der Befriedigung ihrer rationellen Bedürfnisse.

Im angeführten Beispiel war den Zöglingen dieser Zusammenhang eine Selbstverständlichkeit, so daß keine besondere pädagogische Arbeit zu seiner Erklärung erforderIich war. Die Befolgung dieser Regel gewinnt jedoch große Bedeutung bei der Entwicklung wertvollerer Perspektiven auf einer höheren Stufe der Kollektiventwicklung. Das wurde deutlich sichtbar, als es darum ging, die Hilfe für das Kinderheim Kurjash zur Perspektivse des Zöglingkol1ektivs zu entwickeln. Die Zöglinge wurden für dieses Ziel dadurch gewonnen, daß es Kalina Iwanowitsch Serdjuk verstand, ihnen die Hilfe für Kurjash als moralisches Bedürfnis des Kollek­tivs bewußtzumachen. Die Einhaltung dieser Regel ist besonders wichtig, um in den Zöglingen freudige Emotionen als Motive ihres Handelns zu wecken.

c) Der Erzieher muß die Zöglinge davon überzeugen, daß der Inhalt der Perspektiven realisiert werden kann.

Als im Koldcktiv Zweifel entstanden über die Verwirklichung der Pläne in bezug auf das neue, bessere Leben in den wiederherzustellenden Ge­bäuden des verlassenen Gutes, trat ihnen Makarenko mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität entgegen. Er ließ die Zöglinge spüren, daß er restlos vom Gelingen der großen Aufgabe überzeugt war, und verjagte damit jeden Zweifel aus ihren Herzen.

Quellen:
[40] Makarenko: Ausgewählte pädagogische Schriften. A.a.0., S.107.
[41] Ebenda, S.73.
[42] Makarenko: Der Weg ins Leben. A.a.0., S.436
[43] Ebenda.
[44] Ebenda.
[45] Ebenda, S. 451/452.
[46] Makarenko: Ein Buch für Eltern. A.a.0., S.36.
[47] Makarenko: Werke. Band V, a.a.0., S.80.
[48] Makarenko: Der Weg ins Leben. A.a.0., S.651
[49] Ebenda, S. 52.
[59] Ebenda.
[51] Ebenda.
[52] Ebenda.
[53] Ebenda.
[54] Ebenda.
[55] Vgl. ebenda, S.90.
[56] Vgl. ebenda, S.257.
[57] Ebenda, S.289.
[58] Makarenko: Werke. Band V, a.a.0., S.84.
[59] Vgl. Makarenko: Flaggen auf den Türmen. A.a.0., S.293.
[60] Makarenko: Der Weg ins Leben. A.a.0., S.408.

Quelle: Hans Berger: „Die Freude als Mittel der Erziehung“. Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin, 1957, S.44-51.

*P.S. In den Sommerferien wurden sowjetische Studenten regelmäßig auf Großbaustellen eingesetzt. Innerhalb der sozialistischen Staaten gab es einen lebhaften Austausch mit Studentenbrigaden anderer Länder (insbesondere der UdSSR), Studenten aus Tbilissi, Minsk und Moskau kamen in die DDR, und umgekehrt fuhren Studenten aus Berlin, Leipzig oder Jena auf Baustellen in die Sowjetunion. Anschließend lernten die Studenten das befreundete Nachbarland kennen. Wer das noch nicht erlebt hat, der weiß nicht, was Kollektivität ist, was Freude an der Arbeit ist und was echte internationale Solidarität und Freundschaft ist!


Siehe auch:
Wer war Makárenko?
Makarenko: Erziehung zu Solidarität und Menschlichkeit
Über Perspektiven im gesellschaftlichen Leben
Stalin: Über die Schwierigkeiten der Perspektive?

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5 Antworten zu A.S. Makárenko: Die Freude als Mittel der Erziehung

  1. Atomino schreibt:

    sehr guter Beitrag !

    mit sozialistischen Grüßen,
    Atomino

  2. Rolf schreibt:

    Danke für diesen wichtigen Beitrag!

    Einige Punkte erinnern mich in gewisser Weise auch an die DDR:
    „Eine bittere Lehre“
    „Was war da falsch gelaufen?“

    Rolf

  3. Ronny schreibt:

    A. S. Makarenko – Der Weg ins Leben als PDF: http://mediafire.com/file/ezkyn09sl2mmnwa

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