Der Dichter Erich Weinert, war wie kein anderer in Wort und Tat mit der Arbeiterklasse verbunden. 1890 als Sohn eines Ingenieurs in Magdeburg geboren, erlebte er als junger Mensch das Desaster des ersten Weltkriegs. Die Große Sozialistische Oktoberrevolution 1917 in Rußland, die revolutionären Kämpfe in Deutschland und seine Mitarbeit im politisch-satirischen Kabarett „Retorte“ in Leipzig ließen ihn zu einem politischen Kämpfer werden. 1929 trat Erich Weinert in die Kommunistische Partei ein. Auf rund 2.000 Versammlungen und Kundgebungen stellte er – höufig trotz Verbotes – durch mitreißenden Vortrag seine Dichtungen in den Dienst des Klassenkampfes. Die Justiz der Weimarer Republik tat alles, um dem kommunistischen Dichter den Mund zu verbieten, man machte ihm Prozesse, vernichtete seine auf Schallplatten gesprochenen Gedichte. Aber Weinerts Gedichte waren so volkstümlich geworden, daß sie aus den erbitterten Klassenkämpfen jener Jahre nicht wegzudenken sind. Als 1933 die Faschisten an die Macht kamen, befand sich Weinert gerade auf einer Vortragsreise und entging so der Verhaftung. Er hielt sich zunächst in der Schweiz auf, von wo er dann nach Paris emigrierte. 1935 erhielt er eine Einladung in die Sowjetunion, die ihm auch Gastrecht gewährte. In seinem Poem „Das Gästebuch des Fürsten Jussupow“ beschreibt er, wie die junge Sowjetunion mit der Oktoberrevolution eine Wende in eine neue Zeit einleitete…
Erich Weinert
DAS GÄSTEBUCH
DES FÜRSTEN JUSSUPOW
l
Man hat von Moskau nicht weit;
Da liegt, in hügliger Einsamkeit,
Von kühlem Fichtenwald umfaßt,
Mit Hallen und Höfen, ein Sommerpalast,
Mit Säulensälen und Wasserspielen,
Mit Fayence, Brokat und gemusterten Dielen.
ln diesem Aufwand von Kostbarkeiten
Ist kein Pot de chambre aus unedlem Stoff.
Dies baute zu Katharinas Zeiten
Einer der Fürsten Jussupow.
II
Das heißt: der hat es nicht gebaut;
Das bauten seine leibeigenen Sassen.
Die mußten für ihn ihre dürre Haut
Sich von den Händen schaben lassen.
Da waren doch zehntausend Arme und Beine;
Die schleppten und fügten Balken und Steine.
Da waren doch tausend kunstvolle Hände;
Die legten Perlmutt und Gold in die Wände.
Da waren doch Fingerchen, die geschickt
Flimmernde Fädchen gewebt und gestickt.
Viel Knochen zerbrachen unter den Quadern,
Viel Hände erfroren im Winterwind,
Viel Blut ging aus zerschlagenen Adern,
Viel junge Augen stickten sich blind.
Und hörten sie einmal auf zu taugen,
So gab es neue Hände und Augen;
Die waren billig, sie kosteten nichts
Als ein Stück Brot.
Herr Jussupow war ja Herr des Gerichts
Über Leben und Tod.
III
Ein Jussupow sagte, als wär es ein Spaß,
Als er besoffen beim Nachtmahl saß:
„Wißt ihr denn, daß mein Sommerkasino
In hundert Jahren mehr Menschen fraß
Als das Gemetzel von Borodino?“
IV
Ein andrer von dieser noblen Geburt
Hatte, zu Bonapartes Zeiten,
In Paris sein halbes Vermögen verhurt
Und kam in große Verlegenheiten.
Er ließ an seinen Verwalter schreiben:
Sofort die doppelte Steuer eintreiben!
Da ging die Knechtsordnung aus den Fugen.
Weit durch die Wälder scholl das Geschrei.
Mit Äxten strömten die Bauern herbei.
Sie packten die Domestiken und schlugen
Blindwütend Portale und Fenster entzwei.
Als Jussupow durch die Tore fuhr
Und sah die Kompanie Grenadiere,
Nickte er dreimal: Ich gratuliere!
Und lächelte nur.
Denn er war ein Gentilhomme von Kultur
(er las Diderot, Swift, Clauren und Goethe)
Und meinte, daß man den Geist der Emeute
Nicht mehr mit barbarischen Mitteln töte
(und Tote schaffen ja kein Vermögen).
Er ließ eine weitere Steuer auflegen
Für Kopf und Kind, für Hufe und Haus;
Die preßte die letzte Kopeke heraus.
Herrn Jussupows Henker hieß Ohnebrot;
Denn er war ja Herr über Leben und Tod.
V
Die letzten Jussupows waren’s nicht mehr;
Sie spielten den guten Patron.
Doch die Bauern hungerten ebensosehr,
Nach alter Tradition.
Und als in ihren Gebeten um Brot
Das Amen schon wie ein Fluch gedroht,
Da war noch immer in Park und Palast
Viel adliges Gelichter zu Gast;
Das verfraß des Bauern Brot in der Pfanne,
Das versoff des Bauern Blut in der Kanne.
VI
Erst als die Faust der Geschichte schlug
Dreimal gegen die Wände,
Nahm der verfluchte Spuk und Betrug
Endlich ein Ende.
VII
Da zogen Soldaten vor den Palast
Und sagten: „Genossen Bauern,
Seht unsre rote Fahne am Mast!
Kein Feind ist mehr in den Mauern.
In diesem Raubnest soll jedes Gerät,
Soll alles stehnbleiben, wie es steht!
Das ist jetzt u n s e r Haus! Wer es zerstört,
Zerstört nur, was ihm selbst gehört!“
Da gingen die Bauern auf die Terrassen,
Sie gingen schweigend durch jeden Saal,
Sie durften den seidenen Prunk anfassen,
Der ihren Müttern dic Augen stahl.
Sie rührten an die Lüsterkristalle
Und an die Tasten im Clavichord.
Sie schreckten zurück in der Spiegelhalle
Und gingen hinaus und sagten kein Wort.
Drei Kreuze schlugen sie vor dem Tor
Und hohen die Hungerfäuste empor.
VIII
Der Palast blieb stehn.
Und steh blieb in seinen Räumen die Zeit.
Heut stehn die Tore geöffnet weit
Für alle, die da vorübergehn.
Wo einst die drohende Schildwache stand,
Am Tore zum Propyläum,
Hängt heute ein friedliches Schild an der Wand:
MUSEUM
Heut kommen sie singend durch den Wald,
Arbeiter und Bauern, jung und alt.
Sie gehn durch die Säle mit hellen Mienen;
Neugierig-heiter gchn sie heran
An die Galafräcke, Tableaus und Vitrinen
Und lachen sich in den Spiegeln an.
Zur Sage geworden die Welt der Schinder,
Entwaffnet die Vergangenheit!
Und die Spiegel werden blind und blinder
Vom Atem der neuen Zeit.
IX
Einer der letzten aus Jussupows Haus,
Schon zu Zeilen des letzten Nikolaus,
Hatte ein Gästebuch angelegt,
Wo die Gekrönten und Exzellenzen,
Die je bei Jussupows sich gepflegt,
Launige oder erhabne Sentenzen
Und ihre prätentiös gekurvten,
Erlauchten Namen hineinschreiben durften.
Auch das Gästebuch ist liegengeblieben.
Von den Gästen, die sich hineingesdirieben,
Blieb weiter keine Spur mehr da
Als diese vergilbten Allotria.
Da wimmelt es auf hundert Blättern
Von aphoristischem Schnörkelwerk
Aus lyrischen oder soldatischen Lettern,
Mit und ohne m.p.-Vermerk.
Da wimmelt es von feudalem Verkehr,
Von Prinzen von Preußen und sonstwoher.
Und dann ist auf einmal Schluß.
Der letzte Erguß
Stammt wohl von einer Dame.
Die Schrift geht über das ganze Buch,
Schnell hingeschleudert wie ein Fluch.
Oktober neunzehnsiebzehn. Und Name.
X
Als Jussupows Gelichter verscholl,
War das Buch erst zur Hälfte voll.
Ein junger Rotgardist, der es las,
Als er nachts auf der Wachstube saß,
Lachte und dachte in seinem Sinn:
Da sind ja noch viele Seiten drin
Für weitere Gäste!
Ich denke, da ist es das beste:
Wir lassen hier eine Seite frei;
Ein Kreuz hinter das Gezüchte!
Und hier beginnt nun Kapitel zwei
Der Weltgeschichte.
Der Rotgardist sann die ganze Nacht,
Wie man das möglichst deutlich macht.
Dann fing er an, mit dem Bleistift zu träumen
Von Heimatbergen, Wiesen und Bäumen
Und immer weiterem Horizont.
Das dehnte sich in sonniger Ruh.
Die Sonne, die er nicht zeichnen gekonnt,
Gab er aus seinen Augen zu.
Und darüber baute er, halb im Traum,
Ein mächtiges Tor in den vorderen Raum.
Er malte einen Fünfstern über das Tor
Und einen Rotgardisten davor,
Dann tuschte er mit ganz verdünnten
Grünen, blauen und roten Tinten
Die Sache aus und sagte dann:
„Hier fangen nun u n s e r e Gäste an!“
XI
Die neuen Gäste im fürstlichen Haus
Sahen nun etwas anders aus.
Da kamen die Bauerndelegierten.
Die mit schwerfingrigen Fänden
Mühselig ihre Namen hinklierten.
Da kamen Genossen von allen Enden.
Da schrieben Hände, zerschunden von Kohlen.
Da schrieben Hände, zum Dichten bestellt.
Sie schrieben in allen Sprachen der Welt
Des Sowjetstaats klare Parolen.
XII
Ich fand im Gästebuch das Blatt,
Das der junge Soldat gezeichnet hat.
Es ist eins der rührendsten Gedichte
Über den Siegestag seiner Partei.
Hier beginnt wirklich:
KAPITEL II
DER WELTGESCHICHTE
1936
Der ehemalige Sommerpalast des Fürsten Jussupow
Das Leben der Bauern im vorrevolutionären Rußland
Hat dies auf Muss MANN wissen rebloggt.
Gruß zum 1.Mai
https://deutschelieder.wordpress.com/2014/11/03/hermann-claudius-wann-wir-schreiten-seit-an-seit/