Interview mit Ervin Rozsnyai über die Lage in Ungarn

RozsnyaiSehr ausführlich, wenn auch nicht zum erstenmal, legt der verehrte Lehrer, der ungarische Philosoph und Dichter, Genosse Ervin Rozsnyai, in seinem Interview die Situation in Ungarn dar; und wir können davon ausgehen, daß sich daran bis heute nichts geändert hat. Die fatale Lage der ungarischen Kommunisten ist nicht besser geworden – im Gegenteil: jeder noch so geringe Versuch, sich dem Marxismus-Leninismus, der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse, wieder zu nähern, wird von den meisten Ungarn mit einem ironischen Lächeln quittiert. Das Atombunker-Museum in Budapest, aber noch viel mehr das „Terror-Haus“ Museum mit seinen geschichtsfälschenden Darstellungen des Sozialismus in Ungarn und die tägliche antikommunistische Propaganda der rechtsgerichteten Orbán-Regierung haben ihre Spuren hinterlassen…

Und die Menschen stehen Schlange vor dem „Terror-Haus“ Museum, um wieder einmal das Gruseln zu lernen – aber nicht etwa vor dem faschistischen Terror der ungarischen Nazis, der „Pfeilkreuzler“ und Mindszenti- und Horthy-Faschisten, sondern vor dem Kommunismus und dem Einmarsch der Roten Armee…

Ervin Rozsnyai (29.6.1926 – 26.4.2012) war einer derjenigen aufrechten und ehrlichen Kommunisten, die im Februar 1946 begonnen hatten, eine Volksrepublik auszurufen und den Sozialismus aufzubauen. Doch auch in Ungarn versuchte die Konterrevolution ihr blutiges Haupt zu erheben. 1956 hatten die Faschisten einen Putsch angezettelt. Vergeblich! Denn sowjetische Armee zerschlug den Mob der Putschisten. Doch zuvor waren zahlreiche Kommunisten auf offener Straße gelyncht und gefoltert worden oder hatten durch den Terror der ungarischen Nazis ihr Leben verloren…
Nun, wie ist die Situation in Ungarn heute?

Ein Interview mit Ervin Rozsnyai

Frage: Können Sie uns bitte kurz die Karl-Marx-Gesellschaft, der Sie vorsitzen, vorstellen?
Ervin Rozsnyai: Die Karl-Marx-Gesellschaft wurde im Jahre 1989 gegründet. Sie hat über 1500 Mitglieder. Und sie gibt eine Zeitschrift mit dem Namen „Dialektika“ heraus.

Frage: Was ist das Ziel der Karl-Marx-Gesellschaft?
E.R.: Die heutige Situation ist eine Tragödie. Alle beiden Parteien, die „Ungarische Kommunistische Arbeiterpartei“ und die „Arbeiterpartei 2006“ sind Mitglieder der „Euro­päischen Linken“. Letzten Endes hilft die frühere Arbeiterpartei, heute die „Ungarische Kommunistische Arbeiterpartei“, den Rechten. Die „Arbeiterpartei 2006“ erkennt an, daß es in Ungarn eine faschistische Gefahr gibt, und sie zieht daraus die Schlußfol­gerung, daß man mit der „Ungarischen Sozialistischen Partei“ zusammenarbeiten muß.

…es gibt nur wenige gebildete Marxisten

In Ungarn gibt es sehr wenige gebildete Marxisten, die meisten von ihnen sind in der Karl-Marx-Gesellschaft zu finden. Die Karl-Marx-Gesellschaft hat in ihrem Programm festgehalten, daß in Ungarn eine Kommunistische Partei gebildet werden muß, und damit hat sie ihre Meinung über die bestehenden Parteien, die sich so nennen oder sich als solche betrachten, gesagt. Die Karl-Marx-Gesellschaft betrachtet es als ihre Aufgabe, mit wissenschaftlicher Arbeit für eine Kommunistische Partei ein Pro­gramm vorzubereiten. In unseren wissenschaftlichen Werkstätten ist diese Vorberei­tungsarbeit für ein marxistisch-leninistisches Parteiprogramm begonnen wurden.

Harte Diskussionen um die Folgen des XX.Parteitags der KPdSU

Mit dieser Arbeit wollen wir natürlich auf alle Kommunisten und Sympathisanten einwir­ken. Besonders auf die „Arbeiterpartei 2006“, in welcher auch Mitglieder der Karl-Marx-Gesellschaft Mitglieder sind. Der zweite Vorsitzende der Karl-Marx-Gesellschaft, Adam Wirth, ist der Hauptideologe der „Arbeiterpartei 2006“. Daraus folgt, daß es in der Karl-Marx-Gesellschaft harte politische und ideologische Diskussionen gibt. Diese harten Diskussionen drehen sich hauptsächlich um die Folgen des XX. Parteitages der KPdSU, um Chruschtschow etc. Die Diskussionen handeln hauptsächlich von der Beurteilung der sozialistischen Vergangenheit und der sowjetischen Geschichte, ins­besondere von der Rolle Stalins.

Welchen Sinn haben eigentlich die „Europäischen Linken“? 

Wir haben zwei Jahren lang keine vernünftige Arbeit zustande bringen können, weil es ständige Diskussionen um den Sinn oder Unsinn der „Europäischen Linken“ gegeben hat. Und in einer solchen Mikro-Umgebung konnte man feststellen, daß dieses Ge­bilde der „Europäischen Linken“ praktisch diese kleine Gemeinschaft, wie sie die Karl-Marx-Gesellschaft ist, gespalten hat. Und in ganz Europa wird durch dieses Gebilde namens „Europäische Linke“ die Arbeiterbewegung gespalten.

Warum werden Stalin und die Sowjetunion kriminalisiert?

Sei es dieses Gebilde, seien es die verschiedenen Diskussionen: Vieles zeigt uns, daß die Auflösung der Arbeiterbewegung ihre wesentliche Ursache im XX. Parteitag der KPdSU hat. Man hat Stalin und die Sowjetunion regelrecht kriminalisiert. ln Ungarn kann man sehr gut feststellen, wie der XX. Parteitag praktisch die ganze Arbeiterbe­wegung zerlegt, atomisiert hat. Das begrenzt die Möglichkeiten unserer Tätigkeit. Wir haben kein Geld, wir haben keine Infrastruktur, wir haben keinen Masseneinfluß. Man muß sehr überlegen, worauf verwenden wir die geringe Energie, die wir besit­zen, wir haben ganz wenige Möglichkeiten.

Schwerpunkte der Arbeit der ungarischen Kommunisten

Man muß die Hauptthemen festlegen, auf die wir uns konzentrieren müssen. Wir versuchen, unsere Möglichkeiten darauf zu konzentrieren, daß wir in unserer Zeitung „Dialektika“ Themen, wie die wirkliche Geschichte der Sowjetunion, die wirkliche Bedeutung Stalins u.ä. behandeln, daß wir diese Themen, welche die Arbeiterbewegung praktisch gespalten und atomisiert ha­ben, erörtern und klären.

Um ein Beispiel zu geben: Bei den Russen gibt es eine starke wissenschaftliche Ar­beit zur Klärung der sowjetischen Geschichte. Auch unter Marxisten ist die Meinung verbreitet, daß die anfänglichen Mißerfolge der Roten Armee ihre Ursache haben darin, daß Stalin die Meldungen der Aufklärer nicht berücksichtigt hätte. Vor einigen Jahren erschien die Arbeit eines russischen Forschers, auf der Grundlage des Studi­ums von sowjetischen Militärarchiven, also Originaldokumenten. Und er kam zu dem Schluß, daß es einfach nicht wahr ist, daß man die Meldungen der Aufklärer nicht berücksichtigt hat. Er hat die Entscheidungsmöglichkeiten des sowjetischen General­stabes verglichen angesichts der von der Wehrmacht betriebenen Desinformation und Propaganda und hat bewiesen, daß die Arbeitsweise des sowjetischen Generalstabes eigentlich die einzige Möglichkeit war, und darüber hat der russische Forscher einen interessanten Artikel geschrieben. Nun, diesen Artikel wollten wir in unserem Blatt in der „Dialektika“ veröffentlichen und die Menschewiken in unserer Gesellschaft haben zwei Jahre lang die Veröffentlichung dieses Artikels verhindert.

Aufklärung über die Fälschungen der Geschichte

Selbstverständlich geht es nicht darum, daß wir den Zeitabschnitt von Stalin nicht kritisch betrachten dürfen. Es geht nur darum, daß der XX. Parteitag diesen Zeitraum kriminalisiert hat, daß man die Umstände nicht beachtet hat, welche die Sowjetunion zu Maßnahmen des Schutzes gezwungen haben, die sich aus der gesellschaftlichen Zurückgebliebenheit ergaben. Und man hat einfach die Ergebnisse des Sozialismus, welche bedeutend waren, verschwiegen. Die Bedeutung der Repressionen hat man in einem riesigen Ausmaß aufgebauscht, und man hat die Statistiken gefälscht. Jetzt sagen schon nichtkommunistische Historiker, daß Chruschtschow die Zahl derjeni­gen, die in Lagern gewesen sind, verdoppelt hat. Kurz zusammengefaßt, wir müssen zurückgehen zur geschichtlichen Wahrheit, also müssen wir diese Sachen klären.

Das gesellschaftliche Bewußtsein

Im heutigen Ungarn ist die gesellschaftliche Bewußtheit sehr schwach. Deshalb wol­len wir ein wenig die Glut des Feuers erhalten. Wir müssen viel mehr in zivilen Orga­nisationen und Parteien arbeiten. So arbeiten unsere Mitglieder auch in der Gesell­schaft „ATTAC Ungarn“, in ihrem Wissenschaftlichen Beirat. Wir haben z.B. das Fo­rum der Fortschrittlichen Kräfte, wo wir uns mit Menschen unterschiedlicher An­schauungen über wichtige gesellschaftliche Fragen unterhalten. Die letzte Zusam­menkunft war ein Gespräch antiliberalcr Volkswirtschaftler miteinander. Wir arbeiten auch noch mit anderen zivilen Organisationen zusammen, leider mit geringer Kraft.

Proteste gegen den Krieg – auch in Ungarn

Wie Sie wissen, demonstrierten am 15. Februar 2003 weltweit über 12 Millionen Menschen gegen den Krieg im Irak und Afghanistan. In Ungarn nahmen an dieser Demonstration ca. 40.000 Leute teil. Diese Aktion war ein wichtiges Ereignis für die fortschrittlichen Kräfte in unserem Land. Wir mußten an zwei Fronten kämpfen. Zum einem eben gegen die Aggression im Irak und Afghanistan (dabei haben wir auf die gesellschaftlichen Wurzeln des Krieges verwiesen) und zum anderen mußten wir uns darauf konzentrieren, daß sich nicht die radikalen nationalistischen, faschistischen und antisemitischen Gruppen unter uns mischen. Trotzdem nahm an der Demonstrati­on eine große Zahl von nationalistischen Kräften teil. Sie haben versucht die Führung, Leitung der Kundgebung in ihre Hände zu bekommen.

Tragödie: Es gibt keine Kommunistische Organisation!

Die linke marxistische Bewegung in Ungarn ist sehr klein, es ist eigentlich nicht rich­tig von einer Bewegung zu sprechen. Weil die Zahl dieser Menschen so klein ist, nehmen sie an den Veranstaltungen der einen oder anderen Organisation teil, und es treffen sich immer wieder die Gleichen. Jetzt hat die Karl-Marx-Gesellschaft die Initi­ative ergriffen, um eine „Ungarische Antifaschistische Liga“ zu gründen – in Zusam­menarbeit mit dem linken Flügel der Sozialistischen Partei. Also wie gesagt: diese Bewegung erfaßt eine kleine Zahl von Menschen, obwohl es eigentlich auch inner­halb der Rechten Antifaschisten gibt, denn nicht jeder Rechte ist ein Faschist. Und die Tragödie ist, daß es in Ungarn keine wirklich Kommunistische Partei gibt. Deshalb ist es auch sehr schwierig so eine breite Bewegung zu organisieren. Denn es existiert keine klare, weitsichtige Organisation.

Die Dummheit der Anarchisten

In ihrer Mehrheit sind die jugendlichen Antifaschisten in der Regel Anarchisten. Es ist sehr, sehr schwer, sie mit dem Marxismus und der marxistischen Weltanschauung vertraut zu machen. Weil die jungen Antifaschisten Anarchisten sind, isolieren sie sich von den anderen antifaschistischen Kräften in Ungarn, z.B.: an den jetzigen faschistischen Bestrebungen nahmen in jüngster Zeit auch Anar­chisten teil. Sie sehen an diesen Demonstrationen gegen die Regierung nur den einen Aspekt (des Protestes gegen die Regierung), sie sehen nicht, daß es sich bei dieser Bewegung der Rechten um eine kapitalistische Bewegung handelt. Sie sind nicht bereit, diese Regierung gegenüber dem Faschismus zu verteidigen. Sie sehen nicht, daß der Faschismus die größere Gefahr ist.

Der Faschismus und seine Ursachen

Frage: Inwiefern oder durch was drückt sich die Gefahr des Faschismus in Ungarn aus, was sind die Symptome?
E.R.: Man müßte zuerst über die Ursachen sprechen. Es ist ganz sicher, daß die Konterrevolution, der Systemwechsel in Ungarn mit größeren Zerstörnngen verbun­den war als zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929 – mit dem Unterschied, daß die überwiegende Mehrheit der Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, nicht wieder in Arbeit gekommen sind. Am Ende der 80er Jahre war das Verhältnis zwischen den höheren Einkommen und den niedrigen Einkommen l zu 4. Zum Ende der 90er Jahre ist dieser Unterschied gestiegen auf 1 zu 8 bzw. 1 zu 10. Etwa 800.000 Menschen arbeiten schwarz. Da die schwarze Wirtschaft etwa 20 bis 25% des BIP ausmacht, ist es auch schwer, die wirkliche Situation und ihre Tenden­zen eindeutig zu fixieren. Wirtschaftlich aktiv sind ca. 4 Millionen Menschen. Es wird davon ausgegangen, daß in der schwarzen Wirtschaft ca. 2,5 Millionen Menschen arbeiten.

Kolonialisierung Ungarns durch das internationale Kapital

Um auf Ihre Frage bezüglich der Faschisierungstendenzen in Ungarn zurückzukom­men: Also der erste Grund ist, daß sich die Lebensverhältnisse für die großen Massen verschlechtert haben. Ein zweiter Grund ist, daß ein großer Teil der sich bisher in staatlichem Besitz befindlichen Produktionsmittel von den ausländischen Unterneh­men übernommen worden ist – durch Privatisierung. Heute befindet sich die überwie­gende Mehrheit der Produktionsmittel in den Händen ausländischer Monopole. In Ungarn gibt es keine starke Kapitalistenklassc (Wir bedauern das nicht, aber der Sta­tus einer Halbkolonie ist auch nicht unser Ziel.) Sogar die Existenz einer schwachen ungarischen Kompradorenbourgeoisie ist unsicher und steht auf schwankendem Bo­den. Sie sind dem internationalen Großkapital ausgeliefert. Dieser Umstand ist einer der Ursachen für die große Fremdenfeindlichkeit im Land.

Diese beiden Tatsachen (die sich in einer aussichtslosen Lage befindliche Schicht der ungarischen Kleinkapitalisten und die Masse der zum Lumpenproletariat herunter gedrückten Proletarier) bilden die Grundlage für den Populismus. Auf diese beiden Schichten stützt sich die FIDESZ1 (die rechte Partei), was ihre Politik betrifft. Hier kann sie sich eine Massenbasis schaffen.

Frage: Ist die FIDESZ eine faschistische Partei?
E.R.: So viel ist sicher, die FIDESZ ist eine bis ins Mark reaktionäre Partei, deren Leiter Viktor Orbán in vielerlei Hinsicht die Methoden Berlusconis kopiert und seinen Ratschlägen folgt.

Die ungarischen Faschisten…

Vor einigen Jahren einverleibte sie sich ihren Koalitionspartner, die klerikale populis­tische „Kleine-Landwirte-Partei“ und die offen faschistische, antisemitische, aggres­siv rassistische Partei „Ungarische Wahrheit und Leben“ (MIÉP). Offen oder im Hin­tergrund bleibend verbündet sie sich mit faschistischen, extrem nationalistischen Organisationen, von welchen ein Teil von ihr selbst gegründet wurde. Sie hat ein gutes Verhältnis zum Finanzkapital, gleichzeitig zieht sie mit hemmungsloser Dema­gogie das Kleinbürgertum und das Lumpenproletariat an. Ihre höchsten Leiter sind Faschisten oder sie stehen dem Faschismus nahe. Ein bedeutender Teil ihrer Mitglie­der sind Faschisten (nicht alle). Was für eine Politik wird sie fortsetzten? Das hängt in erster Linie von den nationalen und internationalen Kräfteverhältnissen ab. Was ihre Losungen und ihre soziale Demagogie betrifft, erinnert sie ohne Zweifel an faschisti­sche Parteien.

Frage: Wie verhält sie sich zur Privatisierung?
E.R.: Die FIDESZ lehnt die Privatisiernng nicht grundsätzlich ab. Auf der einen Seite dient sie der Privatisicrnng, während sie auf der anderen Seite in Worten gegen die Privati­sierungsbeschlüsse von anderen Parteien protestiert. Sie nutzt also die Proteststim­mung der Bevölkerung für ihre Parteipolitik. Als die FIDESZ an der Macht war, be­nutzte sie das Staatseigentum für ihre Interessen. Wenn sie sich mal konkret gegen eine bestimmte Privatisierung richtet, so handelt sie mit dem Hintergedanken, daß sie diese Mittel nicht mehr in die Hände bekommen wird, weil sie schon privatisiert sind!

Kampf gegen weitere Privatisierungen

Als die FIDESZ an der Regierung war, wollte sie die Krankenhäuser privatisieren, und als sie in die Opposition geriet, hat sie eine Volksabstimmung gegen die privati­sierten Krankenhäuser organisiert, und daran beteiligte sich auch die frühere Arbei­terpartei. Als die FIDESZ an der Regierung war, bekam sie von der Europäischen Kommission sogar eine Rüge, weil sie ausländischen Investoren übertriebene Vergünstigungen anbot, um deren Kapital hierher zu ziehen.

Die Massen betrachten dagegen die Privatisierung als die Machtergreifung des frem­den Kapitals. Der einfache Arbeiter ist gegen die Privatisierung, weil er seine Arbeit verliert (die Beschäftigung ist stets zurückgegangen). Die Arbeiter denken nicht, daß sie sich bei ihrem Protest auf die Linken stützen kön­nen. Weil es eine starke antikommunistische Stimmung gibt, denken sie gar nicht daran, sich an die Linke zu wenden. Es ist ein ständiger Prozeß von antikommunisti­scher Gehirnwäsche der hier in Ungarn stattfindet.

Die Wurzeln des Antikommunismus in Ungarn

Frage: Anscheinend ist der Antikommunismus in Ungarn sehr stark. Warum ist das so ausge­prägt?
E.R.: In Ungarn gibt es eine ausreichend starke Partei, um den Antikommunismus zu ver­breiten, und sie tut es auch. Auch die Nachfolgepartei der „Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei“, die „Ungarische Sozialistische Partei“, grenzt sich vom Kommunismus ab. Die Mehrzahl der Funktionäre dieser Partei, die Betriebsdirektoren, die Partei- ­und KISZ-Funktionäre2 u.ä. waren die größten Befürworter der Privatisierungen, sie wurden zu Kapitalisten.

Desweiteren ist es eine Tatsache, daß es auch vor dem Systemwechsel in Ungarn einen starken Antikommunismus gab. Ja, man kann sogar sagen, daß der Antikom­munismus bei uns sich bis in das Jahr 1919 zurückverfolgen läßt. Die Sowjets, die Rote Armee, wurden nie wirklich als Befreier gesehen. Ein Grund dafür war sicher­lich die Tatsache, daß Ungarn auf der Seite der Nazis gekämpft hatte. Dieser Um­stand bewirkte bestimmte Ängste.

Die Bauern haben Angst…

In unserem Land war die Demokratietradition schwach entwickelt, dagegen war der Einfluß der Kirche sehr stark. Es gab vor allem im ländlichen Gebiet halbfeudale Verhältnisse. Um ein Beispiel zu geben: Die Bodenreform wurde durch die Kommu­nisten bewerkstelligt. Doch bei den ersten Wahlen nach der Befreiung, im Jahre 1946 also, bekam die offen antikommunistische, antisowjetische reaktionäre Kleine­-Landwirte-Partei 57% der Stimmen! Die Bauern hatten Angst vor dem Kolchos-System, sie standen unter dem Einfluß der antikommunistischen Propaganda, z.B., daß mit dem Land auch die Frauen zum Gemeineigentum erklärt würden!

Die Verschuldung Ungarns

Teilweise fanden sogar Pogrome gegen die Kommunisten statt. Und heute werden diejenigen Personen, die diese Pogrome organisiert haben, zur Helden erklärt! Ich kann mich nicht an eine Phase erinnern, wo die Stimmung gegen die Kommunis­ten jemals nicht zu spüren war. So gesehen waren die 1956er Ereignisse die offene Spitze des Eisbergs. Als am ersten Tag der Ereignisse ein Dutzend sowjetische Panzer zer­stört wurden, kam es in den Straßen zur großen Jubelaktionen, man könnte denken, es fände eine Revolution statt! Erst nachdem Kádár das Geld, das für die Investitionen vorgesehen war, verteilt hatte, beruhigte sich die Situation – solange keine Schwierig­keiten in der Versorgung drohten. Das Land verschuldete sich und die schweren fi­nanziellen Bedingungen des Internationalen Währungsfonds bereiteten den System­wechsel vor.

Frage: Wie sehen Sie die politische Zukunft ihres Landes?
E.R.: Ungarn ist heute Mitglied der EU. Die im Geiste von Maastricht aus Brüssel diktier­ten einschränkenden Maßnahmen, welche die Verminderung des außerordentlich hohen Haushaltsdefizites bezwecken, destabilisierten die politischen Verhältnisse, verursachten breite Empörung in der Bevölkerung. Die faschistischen Elemente nut­zen dies aus, ohne Unterbrechung greifen sie die sozialistisch-liberale Regierungskoa­lition an. Im Oktober entfesselten sie gefährlichen, vandalenartigen Aufruhr. Der Pöbel drang in das Gebäude des Fernsehens ein, schlug alles kurz und klein, zündete Autos auf den Straßen an.

Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos!

Obgleich heute die Lage ruhiger ist und der vorbreitete faschistische Putsch vereitelt wurde, können die Flammen in jedem Augenblick aufs Neue auflodern. Die Preiserhöhungen machen die Bevölkerung wütend, desgleichen die Krankenhausschließungen oder der jetzt einzuführende Visitepreis, in der Zukunft muß man für jede einzelne ärztliche Untersuchung zahlen, man denke nur daran, daß Diebstahl und Korruption unglaubliche Ausmaße erreicht haben, daß man allerneues­ten Plänen gemäß den immer flegelhafter, anmaßender auftretenden Kirchen Vermö­gen zukommen lassen will. Ich weiß nicht was uns erwartet ohne Partei sind wir ausgeliefert.

Ervin Rozsnyai

Quelle: offen-siv 5/2013. Übersetzung aus dem Ungarischen: Eberhard Kornagel

Der angebliche Volksaufstand in Ungarn
Kurt Gossweiler: Die Konterrevolution in Ungarn 1956
Der faschistische Putsch in Ungarn 1956
Die blutige Fratze der Konterrevolution

Ein sowjetischer Panzersoldat bestätigt: „Der Aufstand in Ungarn 1956 war ein faschistischer Putsch!“

pdfimage konterrevolution-ungarn



Ein sehr interessanter Brief von Dr. Kurt Gossweiler an Ervin Rozsnyai zur Unterstützung der ungarischen Kommunisten:

pdfimage Kurt Gossweiler – Brief an Ervin Rozsnyai (2005)

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4 Antworten zu Interview mit Ervin Rozsnyai über die Lage in Ungarn

  1. Erfurt schreibt:

    Die Hauptaufgabe der PDL (Die Linke in DE), die behauptet in der DDR ihre Wurzeln zu haben, besteht darin, ebendiese DDR postum mit Dreck zu bewerfen und den Sozialismus als eine Ordnung der Zukunft zu verteufeln. So sehe ich das.

    Viele Grüße!

  2. Pingback: Interview mit Ervin Rozsnyai über die Lage in Ungarn — Sascha’s Welt | Schramme Journal

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