Sowjetunion: Bei Freunden zu Gast

Ein Erlebnisbericht des Ingenieurs Dieter Ostertag

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Das Motorengeräusch ist eintönig. Knapp zwei Stunden dauert der Flug. Auf der Landkarte sieht es wie ein Katzensprung aus: Moskau-Saporoshje. Aber es sind immerhin 1200 Kilometer.

Schon als Schuljunge faszinierte mich dieses riesige Land. Damals begann ich Ansichtskarten zu sammeln. Zu meinen Prunkstücken zählten jene, die ich von Rosa Ljauwa, meiner Briefpartnerin aus Grosny im Kaukasus, erhielt. Wir sind zufällig am gleichen Tag geboren, am 10. März 1942. Als ich das erfuhr, dachte ich: Wie leicht hätten sich unsere Väter im Krieg gegenüberstehen können – als Feinde. Um so wichtiger schien mir nun, daß wir jetzt Freunde waren: Rosa und ich, und unsere beiden Länder dazu.

Ankunft in Saproshje

Ein ruhiger Flug heute, schönes Wetter, man kann deutlich Seen, Wälder und Flüsse erkennen. Genau wie im Januar 1970, als ich zum erstenmal nach Saporoshje reiste. Aber damals war ich unruhig, aufgeregt, wußte nicht so recht, was mich erwarten würde in jener Stadt, die von den Hitlertruppen im zweiten Weltkrieg verwüstet worden war. Unser Transformatorenwerk in Berlin-Oberschöneweide, in dem ich FDJ-Sekretär war, und das Transformatorenwerk Saporoshje hatten schon seit Jahren enge Beziehungen. Wir sind Partnerbetriebe, bauen beide Großtransformatoren von den Ausmaßen solider Ein­familienhäuser. Ich war auf die Reise geschickt worden, um einen Freundschaftsvertrag mit der Komsomolorganisation des Werkes zu vereinbaren.

Freundschaftsbesuch

Mein Betrieb hatte mich für meinen Antrittsbesuch gut ausgestattet: Der Export unserer Stufenschalter nach Saporoshje war in Ordnung gebracht. Mit den Stufenschaltem war unser Werk nämlich auf die Nase gefallen: Planschulden und Qualitätsmängel. Doch die Sowjetunion annullierte ihre Verträge mit uns nicht, sondem verdoppelte sie. So viel Vertrauen, setzte uns FDJ-Mitglieder in Bewegung. Der Stufenschalterbau wurde Jugendobjekt. Wir knobelten mit erfahrenen Arbeitern und Konstrukteuren, bis es geschafft war. Gutes Gepäck für mich auf meinem ersten Flug nach Saporoshje.

Im Transformatorenwerk

Im Werk wurde ich damals vom Generaldirektor und von etlichen Abteilungsleitern empfangen. Ich kam mir in dieser Runde ziemlich klein vor. Einer von ihnen muß gemerkt haben, wie befangen ich war. Er schob mir einen Zettel über den Tisch unter die Abzeichen von FDJ und Komsomol hatte er Дружба („Drushba“-Freundschaft) geschrieben. Wir lächelten uns zu, ich fühlte mich gleich besser. Ähnliches erlebte eigentlich jedesmal.

Dneproges

Das Wasserkraftwerk Dneproges

Beim Besuch im Wasserkraftwerk Dneproges erklärte mir ein alter Kommunist, was die faschistische Armee alles zerstört hatte. Im nächsten Moment aber umarmte er mich: Gut, daß wir nun Freunde sind. Oder Generaldirektor Iwanow. Von ihm weiß ich, daß die Faschisten seiner Familie großes Leid zugefügt haben, trotzdem behandelte er mich wie seinen eigenen Sohn, und als er mich zum Flugplatz begleitete, ernannte er mich aus Spaß zum Ehrenkomsomolzen, und ich verlieh dem Grauhaarigen die Ehrenmitgliedschaft unserer FDJ.

Freundschaftsvertrag

Zufrieden reiste ich damals zurück nach Berlln, den Freundschaftsvertrag in der Tasche. Schon ein halbes Jahr später saßen zehn unserer besten jungen Facharbeiter in der Linienmaschine Moskau-Saporoshje, auf dem Weg zu ihren Kollegen, von denen sie neue Erkenntnisse und neue Freundschaften nach Hause mitbrachten. Aber das war erst der Anfang.

Trafo

Heute fliege ich schon zu alten Bekannten. Ich bin sicher, daß mich mein Freund Wadim Oganesow, der Komsomolsekretär, schon auf dem Flugplatz erwarten wird. Mit ihm und dem Parteisekretär, Genossen Tatarenko, habe ich 1971 die große Sache ausqehandelt, als es um KORAT ging. Unsere Werkleitung hatte die Verantwortung für KORAT, die komplexe Rationalisierung des Transformatorenbaus, die unseren gesamten Betrieb verändert, in die Hände der Jugendlichen gegeben. Und ehrgeizig, wie wir sind, wollten wir vorfristig damit fertig werden.

Sozialistische Zusammenarbeit

Allen war klar: Ohne die Freunde in Saporoshje würde da nichts zu machen sein. Wir brauchten wichtige Maschinen früher als vereinbart. Deshalb also Verhandlungen. Viele im Werk gaben uns wenig Chancen, denn welcher Betrieb kann von einem Tag auf den anderen seinen Plan über den Haufen werfen. Aber ich hatte nicht vergebens auf Wadim und seine Komsomolzen gebaut. Sie nahmen den Auftrag für uns in eigene Regie und versprachen: Beide Vertikalwickelmaschinen werden ein halbes Jahr früher geliefert als im Vertrag vorgesehen, die Kernschicht- und Bandagiereinrichtung kommt sogar ein volles Jahr früher. Und sie hielten Wort, die Zweifler bei uns bekamen große Augen. Eine solche Gemeinschaftsarbeit über Ländergrenzen hinweg kann es wohl nur unter Freunden geben.

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Auf der 2. Internationalen Neuerermesse 1972 in Moskau (ähnlich unserer „Messe der Meister von Morgen“ in Leipzig) stellten die Komsomolzen und FDJler aus den Transformatorenwerken in Saporoshje und Berlin gemeinsam ihr Exponat – die Rationalisierung des Trafobaus – aus. (Dieter Ostertag 2.v.l.)

 

Wadim kam selbst nach Berlin und brachte zwei der besten Wickler mit. Sie hatten von Berlin noch nichts gesehen, aber wichen von früh bis abends nicht von ihrer Maschine. Sie wollten uns zeigen, daß man in 10 Tagen eine Wicklung schaffen kann. Unser Rekord stand bei 19 Tagen. Die beiden legten ein Tempo vor wie Weltmeister: In 8 Tagen waren sie fertig. Da waren sogar die größten Optimisten platt.

Erfahrungsaustausch

Aber es gab schließlich vieles, was wir ursprünglich für unmöglich gehalten hatten. Wer hätte am Anfang gedacht, daß eines Tages zwölf Komsomolzen und zwölf FDJ-Mitglieder unserer beiden Betriebe miteinander in Wettstreit treten würden. Sie messen ihre Leistungen auf den verschiedensten Gebieten, zum Beispiel bei der Planerfüllung, im Neuererwesen, bei der persönlichen Qualifizierung, in der gesellschaftlichen Arbeit. Die Ergebnisse werden per Brief verglichen oder auch beim nächsten Treffen in Berlin oder Saporoshje.

s-l225Russisch ist jetzt gefragt. Ich selber war ja leider in der Schule auch nicht das große Russisch-As. Ich hatte gar nicht daran gedacht, wie dringend ich die Sprache einmal brauchen würde. Inzwischen habe ich einiges nachgeholt. Als Wadim letztes Mal mich in meiner Wohnung besuchte, klappte es mit der Unterhaltung immer so gut, daß meine kleine Tochter begeistert von mir war – sie merkt zum Glück noch nicht, wenn ihr Vater ins Stottern kommt. Aber sie begriff, wie gut wir uns verstanden, und dem Onkel Wadim steckte sie ihre Lieblingspuppe in die Tasche – für seine Tochter in Saporoshje.

Auch diesmal hat sie mir kleine Geschenke für Wadims Tochter mitgegeben. Vielleicht klappt es bald mit dem Urlauberaustausch zwischen unseren beiden Betrieben, dann können meine Annette und Wadims Oljenka an der Ostsee oder am Schwarzen Meer zusammen spielen. Für die nächste Generation wird das schon selbstverständlich sein.

Wir sind im Landeanflug. Die Stimme der Stewardeß verkündet durch den Bordlautsprecher: „In wenigen Minuten erreichen wir den Flughafen Saporoshje…“ Ich freue mich auf alte Freunde. Und auf neue.

(aufgeschrieben von Jürgen Nowak)

Quelle:
Der Sozialismus – Deine Welt. Verlag Neues Leben Berlin, 1975, S.252-254. (Zwischenüberschriften eingefügt. N.G.)

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12 Antworten zu Sowjetunion: Bei Freunden zu Gast

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  3. Kritiker schreibt:

    (gelöscht! Admin. – Faschisten haben hier nichts zu suchen!)

  4. Dieter Sacher schreibt:

    Ich war 1970 insofern mit, als 10 Jugendliche auf Einladung des Transformatorenwerk Saporoshje dort einen schönen Urlaub verbrachten!

    • sascha313 schreibt:

      Danke, Dieter! Alle Besuche in der Sowjetunion waren ein superschönes Erlebnis. 🙂

      • Dieter Sacher schreibt:

        Hm, du warst damals FDJ Sekretär im Tro. Ist nun schon über 50 Jahre her. Kann mich garnicht mehr an dein Bild erinnern. Ich war damals Staplerfahrer und AFO asekretr im kaufmännischem Bereich. Vielleicht können wir uns mal sehen?Ich habe mir vorgenommen wenn es die Situation, corona, es zulassen noch mal hinzufahren. Da ich dazu noch was sparen muß, wirds vielleicht erst 2022 wenn es die Gesundheit zulässt. Bin inzwischen 77 Jahre. Damals war ich 27!

      • sascha313 schreibt:

        Ja, es ist lange her…Hoffen wir, daß diese schlimme Zeit bald vorbeigeht und sich was ändert…

  5. Meister Nadelöhr schreibt:

    Ganz offensichtlich scheint bei einigen hier wirklich die Zeit stehen geblieben zu sein, unglaublich und schlimmer, wie aus dem letzten Jahrhundert.
    Aber, wenn man nichts hat, nicht mehr gehört wird und nichts mehr zu sagen hat (zum Glück), dann schwafelt man eben über längst vergessene Zeiten mit den wenig übriggebliebenen Kampfgenossen auf der eigenst dafür erstellten Plattform und übt sich über den verloren gegangenen roten Kampf.
    Aber auch das regelt sich altersbedingt alles bald von ganz alleine und dann hat der Spuk ein Ende. Übrigens, in meiner Welt, da gilt die Meinungsfreiheit noch etwas und da kann jeder das sagen, was er denkt ohne gelöscht zu werden oder den Maulkorb verpasst zu bekommen.
    Viel Spaß noch „Genossen der Kampfbewegung und nimmer vorwärts, aber immer zurück, da liegt die Zukunft und die Geborgenheit“, aber nicht für 99% der Menschen. Rot Front und Sport frei Jungs, Ihr seit die Größten und Ihr verändert die Welt und ich habe Euch doch alle lieb! Druschba Tawarisch

    • sascha313 schreibt:

      Herr, wirf Hirn herunter! – Das ist die Folge von 30 Jahren kapitalistischer Indoktrination. Voltaire hatte recht, als er sagte: „…wie ich die beschränkten Barbaren verachte, die verurteilen, was sie nicht verstehen, und die Bösartigen, die sich zu den Schwachköpfen gesellen, um zu verbieten, was sie aufklärt.“ – Die Sowjetunion war das Beste, was die Arbeiterklasse in all den Jahren hervorgebracht hat.

    • Erfurt schreibt:

      Wissen Sie, Meister Nadelöhr, die Aussage Ihres Geschreibsels ist praktisch gleich NULL. Genauso hohl wie das ganze Gefasel was die Staatsmedien 24/7 herunterleiern.

    • Hat Ihnen die Corona-Spike-Eiweiß-Vergiftung neuropathische Störungen im Frontallappen Ihres Gehirns verursacht?

    • Harry56 schreibt:

      Nun, Meister Nadelöhr, verstehe, alle Menschen wollen und müssen oft an etwas glauben. Dieser Glaube kann religiös- theologisch, kann aber auch politisch – (quasi) theologisch sein. Lass also einfach – vielleicht aus genügender Lebenserfahrung heraus ? – etwas Milde walten mit den Leuten hier. Dir einen guten erhellenden Tag ! 🙂

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