Anna Seghers: Das siebte Kreuz

Heisler

Der Flüchtling Georg Heisler

Das Buch ist heute kaum noch bekannt. Wir haben es in der Schule gelesen. In ihrem Roman deckt Anna Seghers nicht nur vor aller Welt die Greueltaten des Faschismus auf, sondern sie gibt zugleich ein wahrheitsgetreues Bild vom Leben in Deutschland in den ersten Jahren der Naziherrschaft. Einigen Häftlingen war die Flucht aus dem Konzentrationslager gelungen. Dank der Solidarität der Arbeiterklasse entkommt der Kommunist Georg Heisler den faschistischen Mördern. Viele Fragen treten heute auf: Warum gab es so viele Mitläufer? Warum haben nur wenige sich gegen die scheinbare Allmacht der Nazis gewehrt, obgleich die Kommunisten so eindringlich vor dem Faschismus gewarnt hatten? Auf diese Fragen gibt das Buch uns eine Antwort. In der DDR war der Faschismus restlos beseitigt worden; ganz im Gegensatz zur westdeutschen Bundesrepublik, wo sich einige dieser Traditionen der Nazis zum Teil bis zum heutigen Tage fortsetzen. Wer dieses Buch einmal in der Hand gehabt hat, der legt es nicht wieder weg bis er es ausgelesen hat…

Was hat dieses Buch uns heute noch zu sagen? Es ist ein Spiegelbild der deutschen Bevölkerung. Auch heute würden Menschen sich genauso verhalten. Und noch etwas ist interessant: Literaturunterricht in der DDR war nicht etwa ein zusammenhangloses Geschwätz über Formen und Methoden der Schriftstellerei, sondern lebendiges WISSEN über die Geschichte, um unsere Zeit und die Gegenwart besser zu verstehen.

Die Darstellung der Faschisten

Die Vertreter des faschistischen Systems, Polizeihunde des Regimes und Feinde des Volkes, sind der Lagerkommandant Fahrenberg. der SS-Leutnant Bunsen und der Scharführer Zillich. Durch ihre Gestaltung vor allem ist es der Dichterin gelungen, die unmenschliche Grausamkeit des Faschismus als wesentlichen Bestandteil seines Systems zu zeigen.

Fahrenberg und Zillich sind gescheiterte Existenzen, die nach dem ersten Weltkrieg nicht in ein Leben der Arbeit zurückgefunden haben. Sie gehören zu jenem Gesindel, aus dem sich die Reaktion ihre Landsknechte wirbt. Als ehemaliger wilhelminischer Offizier und SA-Sturmführer der „Kampfzeit“ ist Fahrenberg zum Rang eines Lagerkommandanten aufgestiegen, ein typischer Faschist, der gierig die Macht eines absolutistischen Miniaturtyrannen über Leib und Seele seiner Häftlinge genießt. Weder für die Menschen noch für die Natur besitzt er das geringste Gefühl. Sein bösartiger Charakter wird treffend durch seinen Befehl gekennzeichnet, die Baumkronen der sieben Platanen abzusägen: „Diese Scheißbäume da, die müssen abrasiert werden. Kuppt mal die Dinger da draußen, dalli, dalli!“

Das gehorsame Werkzeug Fahrenbergs ist Zillich, dessen Bauernhof zwangsversteigert wurde, und der wegen Messerstecherei im Gefängnis gesessen hat. Er ist einer von jenen brutalen Kerlen, unter deren unmittelbarer Anleitung die furchtbaren Greueltaten an den Häftlingen begangen wurden. Sowohl er als auch Fahrenberg zittern, seit die sieben Häftlinge geflüchtet sind, daß ihnen die Macht entzogen wird, die es ihnen ermöglicht, Menschen zu Tode zu quälen; sie fürchten, daß sie noch einmal ehrliche Arbeit leisten müssen. Bunsen ist der junge, brutal-nüchterne SS-Offizier: einen Meter fünfundachtzig groß, an Gesicht und Wuchs auffällig schön, innerlich aber völlig hohl und ohne jede tiefere menschliche Regung, ist er ein Zyniker, dem die bestialischen Methoden der Naziherrschaft selbstverständlich sind.

Die wahren Hintermänner und eigentlichen Nutznießer des Faschismus, die Monopolkapitalisten, treten in dem Roman als handelnde Figuren nicht auf.

Die deutsche Bevölkerung unter der faschistischen Herrschaft

Der Roman schildert nicht nur die Verhältnisse im Konzentrationslager und eine gelungene Flucht, sondern auch die Zustände, unter denen die Bevölkerung Deutschlands während der Herrschaft des Faschismus lebte. Er ist auch ein Zeit- und Gesellschaftsroman, in dem von der Haltung verschiedener Schichten des deutschen Volkes in der Periode des faschistischen Regimes berichtet wird. Durch die Art, wie einzelne Menschen und Familien sich zu dem Flüchtling Heisler verhalten, wie sie auf die Begegnung mit ihm oder auf die bloße Erwähnung seiner Person reagieren, ergibt sich ein Bild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit jener Zeit.

Die meisten Menschen in jenem Deutschland der tiefsten Erniedrigung leben unter der furchtbaren Angst vor der Gestapo, vor dem Terror. Die Furcht hat ihren Willen gelähmt und ihre Seelen vergiftet. Sie sind weder zum Protest noch zum Kampf bereit. Ohne Widerspruch führen sie aus, was befohlen wird. Sie sind getreue Untertanen des Faschismus und seine Mitläufer geworden. Von dieser Art sind Franz Marnets Verwandte, ist Heislers frühere Freundin Leni, die den hilflosen Flüchtling kalt und herzlos abfertigt: „Wir geben nichts an Fremde. Wir geben nur direkt an die Winterhilfe.“

Andere sind einfach prinzipienlose Spießer, denen es gleichgültig ist, welches Regierungssystem im Lande herrscht, wenn sie nur gut verdienen und leben. Sie wollen gar nicht wissen, wer in den zahllosen Konzentrationslagern schmachtet, was in den Folterkammern der Gestapo geschieht. Es sind die Indifferenten, die mit ihrer politischen Gleichgültigkeit zur Stützung des faschistischen Systems beitragen. Zu ihnen gehören Leute wie Bunsens Schwiegervater, der Reisender in Champagner für die Firma Henkell ist, die Fuhrunternehmerin Katharina Grabber, in deren Garage Heisler einen Tag als Autoschlosser arbeitet, Hechtschwänzchen, der Angler, dem der Militärposten auf dem Rheinbrückenkopf nicht ganz so interessant erscheint wie die Marokkaner der Besatzungszeit, und der sich zum Handlanger der faschistischen Polizei erniedrigt.

Eine dritte Gruppe in der Bevölkerung bilden jene, die den Faschismus nicht billigen, ihn sogar hassen, aber tatenlos zusehen. Ihr Wahlspruch heißt: Ausharren und sich am Leben erhalten. Sie glauben an die rettende Wirkung der Zeit und überlassen den Kampf den anderen. Es sind Menschen, die man nach dem Zusammenbruch des faschistischen Regimes „Überwinterer“ getauft hat. Solch ein „Überwinterer“ ist zum Beispiel der Tapezierermeister Mettenheimer, Heislers Schwiegervater, der zwar wünscht, daß die Flucht gelingen möge, der aber um keinen Preis etwas damit zu tun haben möchte, weil er keinen Mut zur Tat hat.

Aber doch gibt es noch Menschen, die zu kämpfen bereit sind. Es sind diejenigen, die schon früher für die Interessen der Arbeiterklasse gekämpft und ihr hohes Ziel nicht vergessen haben. Zu ihnen gehören Fiedler und Röder, Franz Marnet und der Eisenbahnarbeiter Hermann. Reinhardt und der Ingenieur Kreß und manche andere. Sie werden durch Heislers Flucht aus ihrer Erstarrung gerüttelt und erneut zusammengeschweißt. Sie ver­körpern die Reserven, die der Antifaschismus in Deutschland besaß. Wie ihr Kampf weitergeht, ist die Frage, die am Ende des Buches offen bleibt:

Heute wissen wir, daß ihrer zu wenige waren, um das Schicksal des deutschen Volkes aus eigener Kraft zu wenden, aber doch genug, daß nach der Niederschlagung des Hitletfaschismus durch die sowjetischen Helden im zweiten Weltkrieg ihre Arbeit in dem befreiten Teil Deutschlands, der Deutschen Demokratischen Republik, einen demokratischen Neubau möglich machte.

Die Bedeutung des Romans

Dieses allseitige künstlerische Gestaltungsvermögen, der hohe gesellschaftliche antifaschistische Gehalt, die Darstellung der Kräfte im deutschen Volk, die die Keime der künftigen demokratischen Erneuerung bildeten, verleihen dem Roman „Das siebte Kreuz“ seine große Bedeutung und die in die Zukunft weisende Kraft.

Quelle:
Schriftsteller der Gegenwart: Anna Seghers, Hans Marchwitza, Willi Bredel. Hilfsmaterial für den Literaturunterricht an den Ober- und Fachschulen. Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin, 1955, S.14-17.

Siehe auch: „Das siebte Kreuz“ (Gedanken zum Buch)

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5 Antworten zu Anna Seghers: Das siebte Kreuz

  1. giskoe schreibt:

    Die „Gedenkstätte“ in Osthofen ist eine „unter ferner liefen“…
    Verweigererkultur des Westens.

  2. Hat dies auf Muss MANN wissen rebloggt und kommentierte:
    Ich frage mich:

    Wie ist es nur möglich, dass WAHRHEIT – welche MILLIONEN von Menschen GELESEN haben – “verloren gehen‘ können!???

    Ditte Menschen Kind von Martin Andersen Nexø habe ich NIE vergessen!!! … Dieses Buch wurde mir 1982 von einer “begeisterten“ jüngeren als mir überzeugten Kommunistin “GELIEHEN!!!“

    … vor drei Jahren habe ich dieses Buch gekauft und einer “Völkischen“ geschenkt — ICH HABE KEINE SCHEU vor Menschen, die ein für mich “irrsinnig erscheinenden WAHN zum Opfer fallen MUßTE!!!

  3. Pingback: Das siebte Kreuz | Sascha's Welt

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