Der Schriftsteller Hansgeorg Stengel und die DDR

„Wenn man Meyers Taschenlexikon ‚Schriftsteller der DDR‘ Ausgabe 1974, folgen darf,“ schreibt der Autor Wolfgang Sellin, „– und man darf –, dann ist Hansgeorg Stengel (Hansgeorg in einem Wort ohne Bindestrich, wie er in unermüdlichen, variantenreichen Vergleichen mit mehr oder weniger prominenten Zeitgenossen hervorzuheben pflegt) im Jahre 1922 in Greiz geboren. Greiz, das rechnet Stengel spätestens seit dem erfolgreichen Weltraumflug des DDR-Kosmonauten Sigmund Jähn Ende August 1978 zum Vogtland: Wir Vogtländer sind ein prächtiger Menschenschlag und alles, was wir tun, tun wir für unsere Heimat, das Vogtland – so ähnlich klang es danach bei manchem Auftritt Stengels, und natürlich auch später, versteht sich … Von Stengel darf man mit Fug und Recht behaupten, er kennt seine Leute, ihre Lebens- und Wirkensumstände, er spürt den großen und kleinen Ärgernissen, Schiefheiten, Lächerlichkeiten nach. Er haßt Aufgeblasenheit, Hohlheit und Falschmünzerei und bekämpft sie mit sprachlicher Genauigkeit…“ [1] Hansgeorg Stengel war nicht nur ein begabter Journalist und Schriftsteller, sondern auch ein Kinderbuchautor und Kabarettist. Nicht zuletzt war er ein bewußter und selbstbewußter Bürger der DDR, der sein Heimatland verteidigte.

Stengel

Hansgeorg Stengel (1922-2003)

Heimattümelei seiner Landsleute aus dem Westen

In schöner Regelmäßigkeit fanden bis zum Ende der DDR sowohl in Coburg wie in Mainz sogenannte Greizer Heimattreffen statt, auf denen sich diejenigen versammelten, die sich mehr oder weniger zur Bourgeoisie zählten: kleine Adlige, ehemalige Fabrikbesitzer, geprellte Nazianhänger, verunsicherte Kleinbürger und enteignete Grundbesitzer, „gebildete Bürger“, Ärzte, Intellektuelle, die teils gelockt durch Versprechungen, teils abgeworben, teils verängstigt durch die immer noch nachwirkende Nazipropaganda und den eingeimpften Russenhaß, ihre Habseligkeiten, ihre Wertsachen und ihren Schmuck gepackt und schleunigst ihre Heimatstadt verlassen hatten. Auf diesen Treffen pflegte man der Heimattümelei, schwelgte in den Erinnerungen an das achso wohltätige reußische Fürstenhaus und die Treue zu Bismarck und dem letzten Kaiser, dessen zweite Frau ja eine gebürtige Greizerin gewesen war, erinnerte an den Parkteich und das „Weiße Kreuz“ und vergaß nicht einmal, daß es mittlerweile zwei deutsche Staaten gab, die reiche Bundesrepublik und die arme, aber darum nicht weniger fleißige Deutsche Demokratische Republik, die man zu jener Zeit doch nur widerwillig zu akzeptieren hatte.

Scharfe Reden der Feinde der DDR

1967 hielt der Jurist Dr. Fritz Franz aus Lüneburg in Mainz eine Ansprache. „Während die deutschen Vertriebenen gegen ihren Willen und unter eklatantem Bruch des Völkerrechts aus ihren Siedlungsgebieten verdrängt worden sind,“ so beginnt Dr. Franz, „beruht unser Wohnsitzwechsel auf einem mehr oder minder freien, eigenen Entschluß. Wir haben uns, soweit wir unsere Heimat nach dem Krieg verlassen haben, in den Westen begeben, weil die Sicherheit einiger gefährdet war, weil andere ihre Sicherheit für gefährdet hielten und weil wir uns alle der veränderten östlichen Gesellschaftsordnung nicht länger unterwerfen wollten. Nicht wenige unter uns mögen daher von Anfang an die Absicht gehabt haben, im Westen seßhaft zu werden. Viele haben in der neuen Umgebung Wurzeln geschlagen und eine neue Heimat gefunden. Doch ob wir nun für immer hier bleiben oder eines Tages in die alte Heimat zurückkehren wollen: uns alle verbindet die Liebe zu Greiz und das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit seinen Bewohnern.“ Und er beendet dieselbe mit den Worten: „Auch unsere Nachbarn werden sich dem deutschen Anspruch auf Wiedervereinigung nicht entziehen können, wenn dieser Anspruch unter den Voraussetzungen verfolgt wird, die dem Sicherheitsbedürfnis Europas Rechnung tragen … der Wiedervereinigung der Deutschen in Frieden und Freiheit.“ [2]

Die neue deutsche „Freiheit“ nach 1989

Kein Wort davon, wer den verbrecherischen Krieg angezettelt, wer wortbrüchig die Sowjetunion überfallen und die Millionen Toten und Opfer des Naziregimes verursacht hatte. Kein Wort davon in dieser Rede, welchen Anteil sie selbst – diese geflüchteten Greizer – an diesem verheerenden Krieg und dem zerstörten „Feindesland“ hatten. Was mit der vielbeschworenen „Sicherheitsfrage“ gemeint war, offenbarte sich den meisten Greizern erst nach 1990: Vernichtung des gesamten Industriepotentials. Enteigung der Arbeiterklasse, strukturelle Arbeitslosigkeit für mindestens ein Fünftel der Greizer Einwohner, massenhafte Abwanderung von Arbeitskräften, Überalterung der Einwohner, Grundstücksspekulation, Verfall und Abriß von Wohnungen einschließlich ganzer Neubausiedlungen und Schulen bis hin zum kostspieligen Neubau einer unrentablen Konzerthalle usw. usf. – es kam eine neue, eine bürgerliche Freiheit. Sie war nichts anderes als eine Fortsetzung der bereits in der glorreichen tausendjährigen Nazizeit versprochenen Sicherheit des Großdeutschen Reiches, das ja bekanntlich im Fiasko geendet hatte.

Und hier ist nun was der Kabarettist und Schriftsteller zu sagen hatte, der beliebt war in der DDR. Hansgeorg Stengels Kommentar zu der Festrede auf einem Greizer Revanchistentreffen in Mainz 1967:

„An der Festrede gefällt mir der oft anklingende Realismus beim Versuch einer Analyse des Deutschlandproblems. Auch ich bin der Meinung, daß die Anerkennung der DDR unabdingbare Voraussetzung der deutschen Eisschmelze ist, wenn ich auch weder der Philosophie des Redners über Wesen und Charakter des Kommunismus noch seiner Ansicht zustimmen kann, daß die DDR ein Unrechtsstaat sei. Ohne Mitglied einer Partei zu sein, lebe ich bewußt in der DDR, weil ich den sozialistischen Weg für demokratisch halte. Freilich ist Demokratie eine Sache, die, um ein Brecht-Wort abzuwandeln, ’schwer zu machen‘ ist. Sie wird nach 12 Jahren Hitler nicht frei Haus geliefert. Sie bedarf der Entwicklung und für die Dauer ihrer Entwicklung einer funktionsfähigen staatlichen Zentralgewalt… Auch wir wollen die Wiedervereinigung, aber nicht um den Preis eines Staatsmodelles nach Bonner Muster. An dieser Einsicht krankt die Rede. Sie geht von der Annahme aus, Westdeutschland sei das eigentliche demokratische Deutschland. Das ist Schwarzweißmalerei, die in den gleichen Irrtum mündet wie die verfehlte Bonner Politik. Soll die mit Recht geforderte Annäherung der beiden deutschen Staaten zustandekommen, werden beide Seiten zu einer nüchternen und vorbehaltlosen Einschätzung der deutschen Lage bereit sein müssen.

Hansgeorg Stengel, Berlin-Grünau“ [3]

Quelle:
[1] VEB Deutsche Schallplatten Berlin DDR, 1979, Plattenhülle; Fotos: Gerhard Kiesling.
[2] Bruno Knüpfer, Mainz und Dr. Fritz Franz, Lüneburg (Hrsg. und für den Inhalt verantwortlich): Anderen deutschen Staat zur Kenntnis nehmen, 1967, o.S.
[3] ebd. o.S.

Siehe auch:
Ein Tag im Leben der DDR
Die DDR war ein Rechtsstaat
Die Kriegsschuld Deutschlands und die Mitschuld des deutschen Volkes

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10 Antworten zu Der Schriftsteller Hansgeorg Stengel und die DDR

  1. „Soll die mit Recht geforderte Annäherung der beiden deutschen Staaten zustandekommen, werden beide Seiten zu einer nüchternen und vorbehaltlosen Einschätzung der deutschen Lage bereit sein müssen. Hansgeorg Stengel, Berlin-Grünau“ [3]

    Tja, daran kann wieder mal erkannt werden, welche Unkenntnis selbst bei solchen Menschen herrschte: Die BRD war eben nie ein Staat! Sie ist es nicht und kann es auch niemals werden.

  2. sascha313 schreibt:

    Erich Honecker hat mal gesagt: „Feuer und Wasser kann man nicht vereinen!“ Und er hatte recht. Die imperialistische BRD hätte man niemals mit der sozialistischen DDR vereinigen können. So kam dabei nichts anderes heraus als eine „friedliche“ Okkupation. Und der Staat ist dabei nur das Machtinstrument der herrschenden Klasse – in welcher Form auch immer, egal ob mit oder ohne Verfassung! Man frage doch mal die „heimattreuen“ Greizer, wer von denen jetzt wieder in „seinem geliebten“ Greiz wohnt. Diejenigen, welche noch einige Besitztümer zu ergaunern „rückzuübertragen“ hatten, haben das zu Geld gemacht und leben weit weg von ihrer einstigen „Heimat“.

    • … doch, doch, wenn nämlich „Feuer und Wasser“ vereinigt werden, ist die Folge eine Atomexplosion 😉

      „Diejenigen, welche noch einige Besitztümer zu ergaunern “rückzuübertragen” hatten, haben das zu Geld gemacht und leben weit weg von ihrer einstigen “Heimat”.“

      Stimmt! kann ich aus Erfahrung bestätigen. Mein Onkel lebt schon seit den 1920-er in den USA, sein Bruder, also mein Vater, lebte aber seit den 1930-er wieder im Raum Bremen. Nach der „Wende“ bekamen die, die von ihren Eltern in Thüringen zurückgelassenen Grundstücke „zurück übertragen“ – Deppen doof, wie sie nun mal sind, haben sie dem auch zugestimmt – nach dem Tod meines Vaters wurde ich daran auch noch mit 1/8 durch Erbschaft beteiligt. Gottseidank ist es meinem Bruder gelungen, einen Teil dessen an die Leute, die dort schon Jahrzehnte darauf wohnten, und sogar schon ein kleines Häuschen noch zu DDR-Zeiten drauf bauten, zu „verkaufen“ – war „wohl eher“ ein symbolischer Kaufpreis 0,50 Euro der Quadratmeter, und alles wurde brav durch acht geteilt. 😉 … so hält man die Sklaven unten und beschäftigt sie mit irgendeinem Firlefanz aus der Vergangenheit und „reißt entweder alte Wunden auf“ oder verbreitet damit Unfrieden unter Menschen, die sich nicht mal kennen können. Hauptsache „Recht“ und „Gesetz“ ist Genüge getan, was? 😦

    • Tobi schreibt:

      Das Deutsche Volk in der BRD war eben zu sehr mit antikommunistischer Propaganda vergiftet. Vorallem mit dieser sogenannten „Sozialen Marktwirtschaft“. Mein ältester Cousin sagte zu mir, dass eigentlich „Soziale“ und freie Marktwirtschaft das Eine und Selbe sei.

      • „mit antikommunistischer Propaganda vergiftet“ – wäre es nur das, läge gar kein großes Problem vor, denn dies kann vollkommen logisch und damit rational „aus der Welt“ geschafft werden. Viel schlimmer ist, wie „wir“ – ich zähle mich zu diesem wir, weil ich in der BRD aufgewachsen bin – in einem Indifferentismus in unserem Denken herangezogen wurden: „das gleiche und dasselbe“ wird weder gedanklich noch sprachlich als elementarer Unterschied wahrgenommen: im Grunde hat sich dort im Denken selbst der katholische Aberglaube des Mittelalter als „wirkliche“ Realität festgesetzt, der keiner Logik der Welt gewachsen ist; oder, wie es im Volksmund heißt: „gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen“ – die meisten Deppen Doofen leben in einer „Truman Show“ und zwar live!
        Selbst auf einem Blog, der immerhin von einem Menschen, der bereits 77 Jahre alt ist und über eine große Lebenserfahrung verfügt und deren Beiträge ich mehr als wert schätze, wird für ein Klo-Reinigungsmittel munter Werbung als Heilmittel – und das auch noch als Heilmittel gegen Malaria – gemacht. http://einarschlereth.blogspot.de/2014/11/das-blutrote-kreuz-genozid-aus.html
        Gegen die einfachsten Regeln der Denkgesetze, die schlichteste Logik wird verstoßen. Wenn ein solcher Wahn vorliegt, kann mit den Menschen geradezu alles gemacht werden – und sie lassen dann auch alles mit sich machen.

      • sascha313 schreibt:

        Tobi, es gibt auch Begriffe, die enthalten eine Lüge. „Marktwirtschaft“ ist so ein Begriff. Er suggeriert, daß das grundlegende Wirtschaftsprinzip der „Markt“ sei, auf dem man nach Belieben handeln und feilschen könne. Das ist aber Quatsch! Der richtige Begriff ist Kapitalismus. Weil diese ökonomische Gesellschaftsformation auf dem privatkapitalistischen Eigentum beruht, der privaten Aneignung der Ergebnisse der Produktion und der Ausbeutung der Lohnarbeiter. Die Letzteren sind gezwungen ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können.

        Der Markt hingegen ist lediglich eine Oberflächenerscheinung der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse sowie der in ihnen wirkenden Gesetze. Was daran sozial ist, das sind gerade mal die bisher erkämpften sozialen Rechte der Arbeiterklasse – wie 8-Stunden-Arbeitstag, das Recht auf Urlaub, das Recht auf Lohnzahlung – viel mehr aber auch nicht. Nicht mal die Gleichberecchtigung der Frauen ist gewährleistet, geschweige denn das Recht auf Arbeit. (in der DDR gab das!)

  3. walterfriedmann schreibt:

    Hat dies auf Walter Friedmann rebloggt und kommentierte:
    Der Schriftsteller Hansgeorg Stengel

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